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Die Hexe aus Burgund: Historischer Roman (German Edition)

Die Hexe aus Burgund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Hexe aus Burgund: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Roswitha Hedrun
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Bärbels Augen, lebensnah. Hilibrand ist für einen Bewusstseinsmoment vor ihrem Inneren aufgetaucht, und trotzdem er sich ihrem Anblick gleich wieder entzogen hat, versinkt sie nun gänzlich in die von dem Falken besungene, weit zurückliegende Welt. Dort gewahrt sie sich bald selbst als die kupferhaarige Gudrun, einer Heilkundigen, damals, vor mehr als tausend Jahren. Im weißen, bodenlangen Kittel steht sie in einem dicht belegten Spital, und neben ihr beugt sich Siglind über einen verwundeten Kämpen. Ein junger, ebenfalls weißgekleideter Druide tritt hinzu, wirft einen kurzen Blick auf den Verletzten und zieht sich wieder zurück, völlig lautlos, als schwebe er über Wolken dahin. Gudrun blickt ihm nach, und mit seinem Verschwinden gleitet ihr Bewusstsein in noch vergangenere Ferne.
Nun zwölfjährig, sitzt sie mit ihren lausbübisch zerzausten Kupferlocken auf einem kleinwüchsigen Pferd und stielt sich von den Stallungen, vorsichtig Huf vor Huf setzend, damit ihr Vater sie nicht entdeckt. Bald liegt ein Abhang vor ihr, und den galoppiert sie sogleich übermütig mit ihrem Pferdchen hinab. Nach wenigen Sprüngen ist ihr, als hebe sie sich vom Boden, als flöge sie - bis sie, als Bärbel, wieder in die Gegenwart zurückgelangt.
Allmählich findet sie zu sich. - Was war das, ein Traum? Nein, wird ihr klar, derart konkret und mit allen fünf Sinnen wahrnehmbar träumt man nicht. Das waren Erinnerungen, eindeutig Erinnerungen. Man lebt also tatsächlich mehrmals. Sie hat es Hildegard nie recht glauben wollen, obschon sie Hildegard bereits in jenem Leben gekannt hat, denn Siglinds feines, fürsorgliches Bild ist deutlich das ihre gewesen. Jetzt bekommt sie es erneut vor Augen - Siglind, die Ätherische, die Krankenfee mit ihrem traumhaften Perlmutthaar. Und gleich drauf taucht für einen Augenblick wieder Hilibrand in ihrem Inneren auf, den sie so geliebt hat, so sehr, dass sie es noch jetzt in ihrer Brust fühlt.
Völlig von ihren Erinnerungen eingefangen, mag sie sich nicht daraus lösen. Dadurch entgeht ihr, wie sich der Falke nun leise von Hildegard verabschiedet, um oben seine Logisstube aufzusuchen.
Nach einer geraumen Weile des miteinander Schweigens, spricht Hildegard Bärbel vorsichtig an: „So versonnen, meine Liebe? Der Gesang scheint dich tief bewegt zu haben.“
Bärbel fährt sich über die Stirn, holt sich in die Gegenwart zurück. Dann blickt sie sich fragend um: „Wo ist der Falke?“
„Auf seine Stube gegangen. Er lässt dich grüßen und dir ausrichten, du sollst deine Erlebnisse gut überdenken.“
„Wie? Aber wie kann er denn von meinen Erlebnissen wissen?“, staunt Bärbel, worauf Hildegard sie mit feinem Lächeln erinnert:
„Der Falke weiß und kann eben mehr als unsereiner, das ist dir doch nicht neu. Hast du denn eine Vision gehabt?“
„Ja, Hildegard, ja, eine Vision war das. Ich habe mein früheres Leben vor Augen gehabt - mehr noch, ich habe es mit allen Sinnen e r l e b t . Und du bist auch darin vorgekommen, wir waren damals beide Ärztinnen, Heilkundige.“
Hildegard, mit derartigen Erinnerungen längst vertraut, wiederholt nachdenklich: „Ärztinnen, Heilkundige. Also liege ich mit meiner Vermutung richtig. Weißt du . . “, jetzt nimmt sie Bärbels abwesenden Blick wahr und hält inne.
Bärbel schwirrt der Kopf. Langsam erhebt sie sich, braucht aber noch etwas, ehe sie Hildegard erklären kann: „Sei nicht böse, aber ich möchte, nein, ich muss jetzt gehen.“
So sehr sich Hildegard auch gewünscht hat, mehr von der Vision zu erfahren, sie erkennt, wie durcheinander Bärbel ist und begleitet sie deshalb mit beruhigenden Worten zur Tür. Dort bittet sie sie dann, übermorgen, am Ruhetag, wiederzukommen, dann hätten sie den Falken den ganzen Nachmittag für sich alleine und könnten ihn auch auf den Hexenprozess ansprechen. Bärbel sagt ihr zu.
Vor dem Gasthaus verweilt Bärbel zunächst ein wenig, um mit tiefen Atemzügen die erfrischende Nachtluft aufzunehmen. Erst dann tritt sie den Heimweg an, der sie durch enge Gassen an den bereits tiefschlafenden Dörnheimer Bauernhöfen, den Werkstätten und den vereinzelt dastehenden Wohnbuden der hiesigen Tagelöhner vorbeiführt.
Auf ihrem Hof schließlich angelangt, ist ihr nicht danach, schon das Haus zu betreten. Lieber lässt sie sich noch für eine Weile auf den steinernen Rand der dortigen Zisterne nieder und schickt ihren Blick hinauf in den Sternenhimmel. Diese Weite dort oben, sinniert sie, diese grenzenlose Weite -
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