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Die Herren der Zeit

Die Herren der Zeit

Titel: Die Herren der Zeit
Autoren: Helmut W. Pesch
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Jahren, wenn nicht Jahrzehnten nicht mehr gelesen worden, weil es die Mühe nicht lohnte, sofern man nach Dingen suchte, die über das Alltägliche hinausgingen. Und selbst die wenigen prachtvollen Bände erwiesen sich selten als ergiebig; denn was nützte etwa die Chronik über die Großtaten der Familie des Junckers Finck, mit Goldblech beschlagen, mit Bergkristallen bestückt und mit einem Wappen aus Perlmutt und Lapislazuli verziert, wenn sich der Text darin mühelos auf einem Faltblatt hätte zusammenfassen lassen?
    Kim wollte sich gerade wieder seinen Studien zuwenden, als das Telephon hupte.
    Zugegeben, es war eine neumodische Erfindung, und alles Neue sollte einen Ffolksmann zunächst einmal misstrauisch machen. Doch seit sich im Elderland die Geschichten über die Wunder des Zwergenreiches verbreitet hatten, war Kim dieser Gedanke nicht aus dem Kopf gegangen. Es war ein einfaches Bleirohr, das den Schall leitete; es führte von seiner Studierstube hinab in die Küche des Kustodenhauses, und es ersparte seiner nicht mehr ganz jungen Zugehfrau den Weg über die Treppen hinauf in die Studierstube, um ihn zum Essen zu rufen oder wenn es etwas Besonderes zu vermelden gab. Außerdem dröhnte es, wenn man hineinsang.
    Kim nahm den Pfropfen aus dem Trichter, der neben seinem Schreibtisch mündete, und rief hinein: »Hallo?« Dann hielt er das Ohr an die Öffnung.
    Die Antwort kam dumpf wie aus den tiefsten Gewölben der Untererde: »Hörr Kümberon! Bösuch för Oich!«
    »Ich komme!«
    Er sprang so hastig auf, dass er fast das Tintenfass umgeworfen hätte. Alles erschien ihm in diesem Augenblick besser, als weiter hier zu sitzen und zu schreiben. Fast war es, als hätte ihn wieder jene Lust des Abenteuers gepackt, die er in seinen staubigen Studien begraben hatte, die Verlockung des Unbekannten, des neuen Landes hinter dem Horizont. Auf seinem Weg die hölzerne Stiege hinab nahm er immer zwei Stufen auf einmal.
    »Nicht so schnell, Herr Kimberon! Ihr werdet Euch noch den Hals brechen!«
    Gutsfrau Metaluna Knopff stand, die Hände in die Hüften gestemmt, in der Küchentür und runzelte missbilligend die Stirn, als Kim durch die kleine Verbindungstür in das Kaminzimmer hineingestolpert kam. Die Gutsfrau war eines Tages, kurz nach seiner Rückkehr, auf der Schwelle des Hauses erschienen und hatte verkündet, dass sie nun, da die Haushälterin des Kustos mit einem Zwergen durchgebrannt sei, sich um Herrn Kimberon zu kümmern gedenke. Kim hatte versucht, ihr zu erklären, dass sich alles ganz anders verhalte und dass er sehr gut auf sich selbst aufpassen könne, aber sie hatte seine Einwände mit einem ›Papperlapapp!‹ beiseitegewischt, die Ärmel aufgekrempelt und sich daran gemacht, den Abwasch zu beseitigen.
    Was bitter nötig gewesen war. Denn so sorgfältig und penibel Herr Kimberon in seiner Arbeit auch sein mochte, zu einem Hausmann war er nicht geboren, und meist hatte er viele andere Dinge im Kopf als die alltäglichen Pflichten des Lebens. Wenn er sich in seine Arbeit vergrub, dann vergaß er mitunter Zeit und Raum; dann vermischten sich die großen Heldentaten der Vergangenheit mit jenen Reisen und Abenteuern, an denen er selbst einen nicht geringen Anteil gehabt hatte. Und manchmal saß er einfach da und träumte.
    Doch dies war keine Zeit für Träumer. Zwar war die letzte Schlacht geschlagen, die dunkle Macht besiegt, auf jenem Feld hoch oben im Norden, wo Menschen, Elben und Zwerge gemeinsam gegen die Dunkelelben und ihre Diener, die Bolgs, angetreten waren und sie wie durch ein Wunder bezwungen hatten. Aber der Preis war hoch gewesen. Es gab kaum eine Familie, die kein Opfer zu beklagen hatte, kaum eine Frau, die nicht Vater oder Mann oder Sohn oder zumindest einen Ohm oder Neffen verloren hatte. Viele Gutshöfe lagen verwüstet da, viele Häuser waren in den Wirren des Krieges verbrannt, und erst langsam, allmählich, jetzt, wo die Sonne sich wieder hervorwagte, begann das Leben sich wieder zu regen. Fast, so dachte Kim, als läge der Hauch des Drachen noch über dem Elderland.
    Er schüttelte die trüben Gedanken ab. »Wer ist es?«, fragte er aufgeregt. Besuch war selten geworden in diesen Tagen. »Einer meiner Freunde?« Mit einem Mal merkte er, wie sehr er sie vermisste: Burorin, den gutmütigen und stets humorvollen Zwerg; Fabian vom Großen Volk, der nun als Kaiser zu Magna Aureolis herrschte; Gilfalas, den stets etwas entrückten Elben; und natürlich Marina, die kleine, dralle Ffolksfrau,
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