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Die heimliche Päpstin

Die heimliche Päpstin

Titel: Die heimliche Päpstin
Autoren: Frederik Berger
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träumte. Es war kein großer schwarzer Rabenvogel, wie ich anfangs geglaubt hatte, sondern ein unscheinbarer mit süßer Stimme: eine Nachtigall.
    Aber singt am Ende des Sommers noch eine Nachtigall? Mit diesem Gedanken wachte ich endgültig auf. Frühlicht fiel in unsere Zelle. Marozia neben mir wälzte sich unruhig hin und her. Doch weder hörte ich den Gesang eines Vogels noch sah ich sein Gefieder. Ich hatte also geträumt, ich würde nicht mehr träumen.
    Vorsichtig schälte ich mich aus dem Bett und trat ans Fenster. In der Ferne, über dem milchig-sanften See, trat die Insel Bisentina aus dem sich auflösenden Frühnebel. Am Ufer schwammen bereits zwei Schwäne in gleichmäßigen Bewegungen auf ein Boot zu, in dem ein Mann in einer schwarzen Mönchskutte hockte, den Kopf unter der Kapuze verborgen.
    Als ich Marozia weckte, schlug sie erstaunt die Augen auf und sagte: »Bin ich doch nicht tot? Ich dachte, ich sei soeben gestorben.«
    »Es war ein Traum«, antwortete ich. »Vor entscheidenden Wendungen im Leben träumt man immer besonders intensiv.«
    »Unsere letzte Reise steht uns bevor«, flüsterte sie. »Eine Reise ins Vergessen.«
    »Entscheidend ist, daß wir leben und zusammen sind.«
    Marozia stand mit halbgeschlossenen Augen vor mir. Ich hielt ihre Tunika in der Hand, um ihr zu helfen, sie überzuziehen. So nackt, wie sie vor mir stand, nicht ohne Spuren der letzten Jahre, war sie noch immer eine schöne Frau. Sie fuhr sich mit ihren Händen in ihre grau gewordenen Haare, die wieder in vollen Wellen bis auf die Schultern fielen. Sie hatte im Kerker Maria Magdalena sein wollen: Jetzt war sie es.
    »Und wenn wir nur träumen, daß wir noch leben?« sagte sie leise.
    »Hoch die Arme!« befahl ich und ließ dann die leinenblasse Tunika über ihren Körper gleiten.
    Anastasius wartete bereits vor der Zelle und führte uns stumm aus dem düsteren Kloster hinaus über eine mit Herbstblüten übersäte Wiese zu dem kleinen Hafen. Der Mönch, den ich bereits entdeckt hatte, sollte uns hinüberrudern zur Insel. Er drehte sich nicht um und begrüßte uns nicht, als wir das schwankende Boot bestiegen.
    Anastasius stieß es vom Ufer ab und rief uns nach: »Ich werde für euch beten und euch nie vergessen.«
    Mit kräftigen Schlägen ruderte uns der stumme Mönch hinaus auf die glatte Fläche des Sees. Ich ließ die Finger durch das warme Wasser gleiten. Keiner von uns sprach ein Wort. Natürlich fühlte ich mich an Charon und seinen Nachen erinnert. Vielleicht hatte Marozia recht, und wir bewegten uns in unseren Abschiedsträumen.
    Unaufhaltsam trieben wir dem Ziel unserer letzten Reise entgegen. Eine kleine Möwe begleitete uns eine Weile, bis sie wieder abdriftete, und in der Tiefe des Wassers sah ich die Silberrücken kleiner Fische blitzen. Die Schwere der Trauer fiel von mir ab.
    Auf halbem Weg zur Insel streifte der Mönch seine Kapuze vom Kopf.
    Es erstaunte mich nicht mehr.
    Vor uns saß Alexandros und lächelte uns an. »Ich bin euer Retter«, sagte er. »Ich hole euch nach Hause.«
    Marozia neben mir gab einen Laut des Erstaunens von sich. Ihre Augen waren aufgerissen, ihre Lippen bildeten stumm einen Namen. Die Freude, so dachte ich, überwältigt sie.
    Alexandros sprang auf, so daß das Boot fast gekentert wäre, schrie: »Meine Mariuccia! Du darfst nicht sterben!«
    Jetzt erst begriff ich, daß es nicht die Freude war, die sie überwältigte, sondern das Entsetzen. Ein zweites Mal bildeten ihre Lippen ein Wort, und diesmal verstand ich, was sie sagte: »Sergius«.
    Ich glaube, Alexandros hat sie nicht verstanden. Er nahm sie in den Arm, hielt sie, strich ihr über Antlitz und Haare, rief: »Ich bin dein Geliebter. Alles war abgesprochen. Es sollte eine Überraschung werden. Meine Frau und meine Kinder drängten mich, euch zu holen, und auch mich ließ euer Schicksal nicht ruhen. Du weißt doch: Wen der Pfeil der Schönen je getroffen … Ich führe euch nach Hause. Wir werden alle glücklich sein.«
    Noch einmal bewegten sich Marozias Lippen, und diesmal nannte sie den Namen ihres einzig und für ewig geliebten Bruders.
    Kein Kuß und keine Tränen konnten sie mehr aus ihrem Totentraum zurückholen.
    Hoch über dem Wasser, auf einem kleinen Friedhof, neben einem namenlosen Kreuz, hoben Alexandros und ich ein Grab aus und bestatteten sie. Wir gaben auch ihr nur ein einfaches Kreuz ohne Namen, doch beschriftet mit dem Wort αταραξία , und beauftragten die Nonnen des Klosters, über den beiden
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