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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition)
Autoren: Simon Geraedts
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nur von künstlichem Licht bestrahlt war. Patrick konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, lebendig begraben zu sein, und spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief.
    Welch sagenhaftes Frühstück hier serviert wurde , dachte er. Wie sollten erst das Mittagessen und das Abendbrot aussehen? Und dieser köstliche Tee.
    Der Tee …
    Patrick schluckte und leckte sich die Lippen. Seine Stirn trug noch die Falten sorgenvoller Nachdenklichkeit, als seine Gedanken auf einmal ihren Zusammenhalt verloren, ziellos auseinander strebten und in einer dunklen Versenkung verschwanden. Dies geschah binnen weniger Augenblicke, als hätte sich in seinem Kopf ein Schalter umgelegt. Ein unbehagliches Kribbeln glitt durch seinen Körper, seine Hände verkrampften sich, und seine Finger bohrten sich in Melanies Rücken.
    »Autsch! Du tust mir weh!«
    Patrick hörte sie nicht; vor dem geistigen Auge sah er einen randvollen Becher des Tees, verlor sich in seinem türkisfarbenen Leuchten und führte ihn in der Vorstellung an seine Lippen. Nicht nur in Gedanken, sondern tatsächlich öffnete er den Mund und nippte an dem imaginären Becher, wobei er in Wirklichkeit nur Luft einsog. Seine Stirn wurde feucht und seine Achselhöhlen nass. Melanie sah ihn erschrocken an.
    »Patrick, du zitterst ja!«
    »Ich …«
    In Gedanken wollte er den gefüllten Becher wiederfinden. Aber sein Geist und sein Körper gaben sich mit der bloßen Vorstellung nicht länger zufrieden und verlangten nach einem wirklichen Schluck.
    »Können wir bitte gehen? Ich habe Durst …«
    Er sah Melanie mit einem Ausdruck aufsteigender Panik an. Dann wollte er nicht länger auf ihre Antwort warten und setzte sich in Bewegung. Patrick lief den Pfad entlang zum Eingang des Wandelgartens, ohne die anmutigen Pflanzen am Wegesrand noch eines Blickes zu würdigen. Wie ein Erblindeter ließ er einen Granatapfelbaum mit reifer Frucht links liegen, der ihn noch vor wenigen Minuten bestimmt beeindruckt hätte; ebenso ignorierte er ein Beet lieblicher Polsterblumen, deren violette Blüten ein kraftvolles Farberlebnis boten. Wie mit Scheuklappen eilte Patrick aus dem Garten, nahm den Blütenduft nicht länger wahr und folgte wie von Sinnen dem Gedankenbild des schimmernden Tees, das ihn so hastig vorwärtstrieb wie eine an den Stock gebundene Karotte einen Esel.
    Melanie rief einige Male ungläubig seinen Namen, doch sie erreichte ihn nicht. Patrick lief so schnell voran, dass sie kaum Schritt zu halten vermochte.
    Patrick rannte über den großen Hof, als wäre er vor jemandem auf der Flucht. Die Patienten, die sich inzwischen zahlreicher hier eingefunden hatten, sahen ihm überrascht nach, da eine solche Hast in diesem Sanatorium ungewöhnlich war.
    Melanie hatte es mittlerweile aufgegeben, seinen Namen zu rufen, und war nur noch bemüht, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Sie lief ihm schnaufend nach und zog auch ihrerseits einige Aufmerksamkeit auf sich. Gar hörte sie manch trockenen Herrenwitz über diese Verfolgungsjagd, etwa den eines Greises, der behauptete, dass die Frauen ihm vor sechzig Jahren ebenso nachgelaufen seien. Ein junger Mann pfiff ihr hinterher und versprach, ihn könne sie mit weniger Mühe haben.
    Melanie achtete nicht auf das Gerede und sah, dass Patrick geradewegs zum Speisesaal lief, dessen Flügeltür er in diesem Moment gewaltsam aufstieß, ohne Rücksicht auf Personen, die auf der anderen Seite stehen mochten.
    Als auch Melanie die Tür erreichte, stützte sie die Hände auf die Knie, um zu verschnaufen. Anschließend trat sie in den Saal, der nun beinah menschenleer war. Die meisten Tische waren verlassen und abgeräumt. Auch das Buffet war verschwunden, und nur die weiße, teils befleckte Tischdecke war verblieben. Die Teekanne am Ende des Tisches war allerdings noch vorhanden und der Andrang auf sie um keinen Deut vermindert. Wie schon zur Frühstückszeit drängte sich eine halbkreisförmige Menschentraube um sie. Die Patienten stritten und schubsten sich gegenseitig, während sie einander die Kanne aus den Händen rissen. Einer unter ihnen benahm sich besonders schroff, verschaffte sich Platz durch regelrechte Gewaltanwendung und eroberte die Kanne schließlich durch einen kräftigen Ruck. Melanie wurde wütend über dieses Benehmen und erschrak, als sie einige Schritte näher herantrat und erkannte, dass es Patrick war.
    Sie wollte ihn ansprechen und zurechtweisen. Überhaupt war ihr das ungestüme Herlaufen völlig verrückt
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