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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition)
Autoren: Simon Geraedts
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er Zahnschmerzen.
    »Entspannen Sie sich, Herr Baumgartner! Akklimatisieren Sie sich! Morgen schon werden Sie sich fühlen wie ein Fisch im Wasser.«
    Der Therapeut versuchte offenbar zu lächeln, doch es wollte ihm nicht recht gelingen. Sein Gesicht wirkte verkrampft, als würde ihn eine Fliege ärgern. Er setzte seinen Gang merklich beschleunigt fort und zog seinen Patienten unsanft an der Hand mit. Dieser ließ sich vorwärts zerren, bis sie eine weitere Flügeltür erreichten, über der eine römische Eins stand.
    »Abteilung Eins. Hier ist vorübergehend Ihr neues Zuhause, Herr Baumgartner, bis Sie so weit sind, in Abteilung Zwei umzusiedeln. Aber immer alles der Reihe nach.«
    Der Mann lächelte, diesmal wieder glaubhaft freundlich, und stieß die Flügeltür mit der freien Hand auf. Jenseits erstreckte sich ein langer Flur, der an beiden Seiten in regelmäßigen Abständen hölzerne Türen hatte. Auch hier war alles weiß: der Teppich, die Tapete, die Decke. Er glaubte, schneeblind zu werden. Der Kittelträger schmunzelte, als hätte er seinen Gedanken gelesen.
    »Zugegeben, dieses farblose Einerlei ist nicht besonders reizvoll. Aber wir wollen doch keinen gefährlichen Schmutz übersehen, nicht wahr?«
    Kalte Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Nach wie vor wollte er in sein blockiertes Gedächtnis vordringen …
    Tho… Thom…
    … aber es fiel ihm immer schwerer.
    Eine scheinbare Ewigkeit liefen sie den Flur hinab, bis der Mann endlich vor einer Tür stehen blieb.
    »Zimmer 137, da wären wir. Wenn Sie einmal Ihren Daumen hier drauf drücken würden?«
    Der Therapeut deutete auf eine rot leuchtende Fläche unterhalb der Türklinke. Anstatt zu reagieren, starrte sein Patient nur abwesend vor sich hin. Jede Faser seines Körpers, vor allem aber seines Geistes, schien wie gelähmt.
    »Ach, Herr Baumgartner!«
    Der Mann nahm lachend seine Hand und presste den fremden Daumen auf die leuchtende Fläche. Ein elektronisches Piepsen ertönte, worauf ein Schloss aufsprang und sich das rote Leuchten zu einem grünen wandelte.
    »Na, bitte. Das klappt ja reibungslos! Nun einfach die Klinke herunterdrücken und die Tür nach vorn aufstoßen.«
    Diesmal wartete der Therapeut nicht ab und tat es gleich selbst. Das Zimmer, in das er seinen Patienten schob, war spartanisch, aber liebevoll eingerichtet. Ein schmales Bett stand in der Mitte, daneben eine Kommode und eine Vase mit Rosen. Links hinter der Eingangstür war ein Schrank neben einem Waschbecken, über dem ein ovaler Spiegel angebracht war. Rechts neben dem Bett offenbarte eine zur Hälfte geöffnete Tür einen Ausschnitt des Badezimmers, in dem sich Toilette und Dusche befanden. Auch hier war alles weiß – sogar die Rosenblüten – und in vorbildlicher Sauberkeit. Das Zimmer war fensterlos, doch strömte durch eine Deckenbelüftung frische Luft, die er gierig in seine Lungen sog.
    »Nun dann, es ist spät, Herr Baumgartner. Ich lasse Sie jetzt allein, damit Sie sich in Ruhe zu Bett begeben können. Alle notwendigen Toilettenartikel finden Sie im Badezimmer.«
    Ja, danke , wollte er sagen. Doch seine Zunge war nach wie vor leblos. Seine Zähne bissen aufeinander, und sein Mund blieb geschlossen.
    »Oh, ehe ich’s vergesse«, sagte der Mann im weißen Kittel, der sich bereits zum Hinausgehen gewandt hatte. »Trinken Sie vor der Nachtruhe einen Becher unseres Tees, Herr Baumgartner, und Sie werden schlafen wie ein Murmeltier und träumen wie im siebten Himmel. Glauben Sie mir, Geheimrezept des Hauses!«
    Der Therapeut zwinkerte und zog dann leise die Tür hinter sich zu.
    Er stand orientierungslos im Zimmer und besaß nicht einmal mehr die Kraft, sich genauer umzusehen. Nach einer Weile gelang es ihm, vor den Spiegel zu treten und in sein bleiches Gesicht zu blicken. Er beugte sich vor und betrachtete seine Augen. Angesichts seiner Müdigkeit erwartete er sie blutunterlaufen. Doch seine blaue Iris war von hellem Weiß umgeben. Sein Blick senkte sich auf die Kanne, die am Waschbecken neben einem weißen Becher stand. Schlafwandlerisch griff er hin und schenkte sich ein. Eine türkisfarbene Flüssigkeit ergoss sich in den Becher … ihr Anblick raubte ihm die Sinne; sein Blick verlor sich in ihrer Tiefe. Mit Augen, die schon nicht mehr seine waren, begann er zu trinken.

Erwachen
    »Guten Morgen, liebe Gäste der Abteilung Eins!«
    Er schreckte auf und fuhr hoch.
    »Wir hoffen, Sie hatten eine angenehme Nacht, und freuen uns, Sie auch heute wieder zu
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