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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme
Autoren: Cantz Kerstin
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befand sich der Professor in Wut. Den ganzen Morgen schon ließ er sich über die Langwasser aus und das, was er einen Verrat nannte. Auch Doktor Heuser war nicht eben guter Dinge. Pauli hatte ihn mit wehenden Rockschößen davongehen sehen, wenn auch nur über die Flure, von der Schwangerenkammer in die der Wöchnerinnen und wieder zurück. Der Professor verblieb hinter den Flügeltüren, wo sie gestritten hatten, noch eine Weile reichlich aufgebracht.
    »Einen Ersatz für ihn finden!«, hatte Pauli ihn laut sagen hören, was ihn den Korb mit dem Brennholz hatte absetzen lassen, um durch das Schlüsselloch den alten Mann vor den Schränken auf und ab gehen zu sehen. »Wer will das schon?«, rief der Professor in die leeren Bänke. »Ich jedenfalls nicht!«
    Zu allem Übel also waren über Nacht zwei der Weiber ins Fieber gefallen und ein anderes in die Wehen. Den ganzen Weg vom Accouchierhaus zum Anatomischen Theater war Pauli gerannt, als hinge sein Leben davon ab. Das Klappern seiner Holzschuhe auf den Stufen hallte unerhört laut durchs Treppenhaus, und oben angekommen, drückte er die Klinke an der Tür des Hörsaals langsam herunter. Er kannte die Stelle, an der sie quietschte.
    »He!«, sagte jemand hinter ihm. »Du kannst die Herren jetzt nicht stören. Nicht mal für eine Zwillingsgeburt würdest du die jetzt hier wegbringen.«
    Dem Anatomiediener begegnete Pauli selten. Was er an dem Alten nicht leiden konnte, war weniger der Leichengeruch, der ihm in den verdreckten Kleidern hing und in den sich Branntwein mischte. Pauli war es lästig, dass er immer reden wollte, reden und reden, wenn er einen am Wickel hatte. Er hörte ihm gar nie zu. Er wandte den Blick von den Speichelfäden ab, die der zahnlose Mund des Alten beim Sprechen zog, während dieser die Stimme senkte.
    »Vier von den Studiosi haben mit anpacken müssen, der war in kein Leichentuch zu wickeln nicht, eine elende Schlepperei war das, und der Hörsaal, sagen sie, soll unbeheizt bleiben, die Fenster offen, immer rein mit dem Frost plötzlich und für die nächsten Tage, an dem haben sie was zu zergliedern, sag ich!«
    Der Alte öffnete die Tür einen Spalt breit, sein vogeliger Schädel verschwand dahinter und tauchte wieder auf.
    »Komm«, er winkte nach ihm, »komm ruhig. Guck ihn dir an, das siehst du so bald nicht wieder.«
    »Nein.« Pauli lehnte sich an die Wand neben der Tür und verschränkte die Arme.
    »Auf den haben sie ja gewartet wie der Teufel auf die arme Seele!«, krächzte der Alte. »Ob der eine hatte?«
    »Was?«, sagte Pauli lustlos. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten. Der Anatomiediener ließ die Klinke los und kratzte sich.
    »War ja auch nur ein armer Idiot, wenn man’s bedenkt. Da hat ihn nun einer im Schlaf erwischt. Gesehen hat’s keiner. Nicht mal sein Bruder, und trotzdem … wie er ihn hergebracht hat, ist mir ein Rätsel. Wo der doch schon einen Körper zu transportieren hatte.«
    Der Alte kam ihm näher, als ihm lieb war, und jetzt zupfte er ihn auch noch am Ärmel.
    »Vielleicht willst du lieber sehen, was Konrad noch gebracht hat?«
    Der Alte kicherte, als Pauli sich von der Wand abstieß.
    »Konrad?«, flüsterte er.
    Der Mann rieb sich die Hände vor Freude, dass Pauli endlich ein Ohr für ihn hatte.
    »Weil du’s bist«, sagte er. Nur ungern wandte er sich von dem hellwachen Blick des Jungen ab, doch dann begann er die Treppen hinabzusteigen. »Weil du’s bist, zeig ich sie dir.«

    An der Postkutschenstation hatte Gesa mit einer Reisegesellschaft gewartet, die letztlich froh war über den freien Platz im Coupé, sodass man es sich geringfügig bequemer einrichten konnte. Nachdem die Kutsche mit Verspätung abfuhr, war Gesa ins Armenviertel gelaufen und von dort zurück in die Stadt. Seit Stunden suchte sie Elgin Gottschalk und fühlte die Füße vor Kälte nicht mehr.
    Die Angst jedoch erwischte sie erst oben am Hang, auf dem Pilgerfriedhof, als sie am Grab Lambert Fesslers bis zu den Waden im frisch gefallenen Schnee einsank. Als sie sich bückte, die Hände hineintauchte und es ihr dumm vorkam, was sie tat. Als ihre steifen Finger dicht vor dem Grabstein an etwas Hartes stießen, sie ein Päckchen heraushob und es vom Schnee befreite. Es waren Briefe, fest verschnürt, mit ungebrochenen Siegeln.
    Sie schob das Päckchen in ihr über der Brust gekreuztes Tuch, auch wenn es sie nur noch mehr frieren ließ, wo es lag wie ein Stein, während sie vom Friedhof fortlief und der kalte Atem ihr in
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