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Die Hebamme

Die Hebamme

Titel: Die Hebamme
Autoren: Cantz Kerstin
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den Lungen stach. Unten, vor der Wegkreuzung, sah sie die Studenten von der Ketzerbach kommen. Hinter ihren schwarzen Mänteln leuchtete Paulis roter Schopf, den er gesenkt hielt, die Hände in die Hosentaschen gebohrt, mit hochgezogenen Schultern.
    Sie rief nach ihm. Erst zögerte er, als er sie entdeckte. Dann rannte er los, direkt auf sie zu.

    Auf den ersten Blick waren die Symptome des Ertrinkens an der Toten nicht überzeugend auszumachen. Man hatte dem Lieferanten keine Fragen stellen können. Entgegen seinem sonstigen unverschämten Auftreten war der Mann am Morgen nicht zugegen gewesen, um sich bezahlen zu lassen. Möglicherweise ging ihm der Tod seines Bruders unerwartet nahe.
    Durch den Anatomiediener hatte der Lieferant sagen lassen, er hätte das Weib vor der Stadt aus der Lahn geborgen, wo er sie am Ufer entdeckte, als er im dünnen Eise einen Fisch zu fangen gedachte.
    Ihr langes Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte und dessen man sich vor der Sektion entledigen würde, war noch immer feucht. Beim Verbrennen der nassen Lumpen, mit denen sie bekleidet gewesen war, hatte sich ein übler Qualm ergeben, dessen Schwaden bis hinauf in die Eingangshalle gezogen waren.
    Wie genau man sich die Todesart der Frau vorzustellen hatte, würde die Lehrsektion an einem der nächsten Tage ergeben. Die anhaltende Härte des Winters machte das großzügige Geschenk der Zeit. Doch beim bloßen Anschauen ergab sich nur ein einziger Hinweis, der für das Ertrinken sprach: Ihr leicht aufgetriebener Bauch sprach dafür, dass sie eine Menge Wasser geschluckt haben könnte.
    Ansonsten fehlten die eindeutigen Zeichen. Ihr quoll kein Schaum aus dem Mund, wenn man ihn öffnete. Die Nasenlöcher steckten nicht voller Rotz und Unrat, wie man es sonst bei Wasserleichen vorfand. Stattdessen – und damit würde man sich zu befassen haben – gaben sie Nachricht darüber, dass die Frau schon tot ins Wasser gekommen war.
    Das ungewisse Schicksal der Person ließ sich nicht gänzlich verdrängen – angesichts ihrer Physis, die auffallend weniger grob erschien als die anderer jemals zuvor angelieferter Körper. Doch gleichzeitig ließ dieser Leib die Herstellung eines Ganzkörperpräparates in Erwägung ziehen, einen Sagittalschnitt durch Kopf und Rumpf, um die Organe im Querschnitt sichtbar zu machen. Man hatte Möglichkeiten! Bevor man sich allerdings einer weiteren Begutachtung des Körpers zuwenden konnte, wurde mit Wucht die Tür des Leichenkellers aufgestoßen. Von einer jungen Frau, der die Tränen aus den grauen Augen stürzten, sobald sie sich an den Tisch gedrängt hatte.
    »An ihr wird kein Schnitt getan«, sagte sie, man musste sagen: Sie schrie. »Wissen Sie denn nicht, dass dies Elgin Gottschalk ist?«
    Man hatte zu fragen, ob sie eine Verwandte sei.
    »Ja«, antwortete sie, die nicht mehr von der Seite der Toten wich, um die sie auf das Heftigste weinte, die sie zudeckte und deren wächsernes Gesicht sie unablässig streichelte. Man hatte sich zu gedulden, bis sie zu sich kam und verlangte, nach dem Arzt Doktor Heuser zu schicken.

    Elgin, die der Stadt eine Reihe von Geheimnissen über sich aufgegeben hatte, teilte ihr letztes mit immerhin drei Menschen. Unzählige dagegen waren es, die von ihr Abschied nahmen, Frauen, die an ihrem aufgebahrten Körper beteten, der dieses Geheimnis in sich barg.
    Das Totenhemd für ihre Herrin nähte Marthe in der einen Nacht, die es gedauert hatte, sie zurück in ihr Haus zu holen. Gesa und die alte Magd wuschen Elgin, die nahezu unversehrt geblieben war, und schmückten ihr glänzendes Haar mit einem Rosmarinkranz. Im Himmel, sagte Marthe, würde es so mit den Haaren der tausend Jungfrauen zusammen fliegen.
    Jene Frauen, die kamen und Kerzen an Elgins Totenbett anzündeten, rochen ein letztes Mal den Duft von Lilienöl und erinnerten sich daran, wie die Gottschalkin es verwendet hatte. Man erzählte sich, es war Marietta, die Frau eines Töpfers, die ihr Kind mitbrachte, ein Wesen, das fröhliche Laute von sich gab.
    Malvine Homberg blieb von allen am längsten. Sie konnte sich nicht lösen, schien es. In den vielen Stunden der Trauer hatte sie trotz ihrer Tränen Beobachtungen gemacht. Als sie sich schließlich erhob, ging sie ohne Umschweife auf Gesa zu.
    »Was ist mit Ihnen, Gesa Langwasser? Werden Sie die Nachfolgerin der Gottschalkin sein?«
    »Wenn Sie mit mir kommen möchten, Frau Rat.« Sie öffnete die Verbindungstür in das andere Zimmer, ging zur Kommode und entnahm der
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