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Die Hand die damals meine hielt - Roman

Titel: Die Hand die damals meine hielt - Roman
Autoren: Maggie O Farrell
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Sträflingen anfangen? Oder steht dir der Sinn mehr nach leichterer Kost wie der aktuellen Wirtschaftslage?« Ohne eine Antwort abzuwarten klappt er den Roman auf und fängt an, mit einem künstlichen australischen Akzent vorzulesen.
    Elina bleibt noch einen Augenblick bei ihnen stehen, dann beugt sie sich zu Ted hinunter und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Er hat die Augen geschlossen. Seine Bartstoppeln kratzen an ihren Lippen. »Bye«, flüstert sie. »Ich bin bald wieder da.«

    Der Hausflur am Myddleton Square ist mit blauen und weißen Achtecken gefliest, ein geometrisches Muster, das sich von der Fußmatte an der Tür bis zur Treppe und darüber hinaus erstreckt, eine kubistische Impression von Licht auf Wasser.
    Durch einige Fliesen am Fuß der Treppe zieht sich ein hässlicher Riss, über den sich Margot nicht selten ärgert. Sie redet manchmal davon, sie auswechseln zu lassen, ist aber nie dazu gekommen. Ende der Sechzigerjahre, als noch Gloria die Hausherrin war, wurden sie einmal mit Leim und Politur
ausgebessert. Doch inzwischen haben sie sich wieder gelockert und klappern leise, wenn man darauftritt.
    Auf diesen Fliesen stand Innes, als er aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurückkehrte und oben auf dem Treppenabsatz einen Mann im Morgenrock seines Vaters erblickte, einen Mann, der ihn fragte: »Wer zum Teufel sind Sie?« Während er dort stand, wurde ihm schlagartig klar, dass es mit seiner Ehe aus und vorbei war und dass sein Leben wieder einmal eine unerwartete Wendung nehmen würde.
    Dass die Fliesen beschädigt sind, ist Innes’ Schuld, auch wenn das von den derzeitigen Bewohnern des Hauses niemand weiß. An einem regnerischen Tag Ende der Zwanzigerjahre stibitzte der siebenjährige Innes ein Kuchenblech aus der Küche, schleppte es bis in den obersten Stock und fuhr damit wie auf einem Schlitten über den Teppichläufer die Treppe hinunter, von einer Etage zur nächsten, über die Berge und Täler der Stufen, bis er mit einem lauten Krachen unten im Flur landete. Beim Aufprall des Blechs auf den viktorianischen Fliesen entstand ein langer, schlangenförmiger Riss; Innes wurde nach vorn geschleudert und stieß mit der scharfen Kante des Kleiderständers zusammen. Auf seine Schreie hin kam Consuela aus der Küche gestürzt, und seine Mutter eilte aus dem Salon im ersten Stock herunter. An jenem Tag war viel Blut auf den Fliesen zu sehen, Lachen von Rot zwischen dem Blau und Weiß. Innes musste mit zwei Stichen an der Stirn genäht werden und behielt bis ans Ende seiner Tage eine kleine, senkrechte Narbe zurück.
    Die achteckigen Fliesen führen an dem Waschraum vorbei, wo Elina kürzlich das Problem mit Jonah hatte, und sie enden am Eingang zur Souterrainwohnung, zu der eine enge, düstere Wendeltreppe hinunterführt. In der letzten Woche ist dort eine Glühbirne durchgebrannt, die Felix, in
typischer Felixmanier, bis heute noch nicht ausgewechselt hat - falls ihm der Defekt überhaupt aufgefallen ist.
    Unten in der Küche tropft ein Hahn; Wasserperlen fallen mit einem leisen Plick in die Porzellanspüle. Plick , macht es, mit beharrlicher Regelmäßigkeit. Plick . Laut genug, um den einzigen Menschen im Raum nervös zu machen.
    Gloria sitzt in ihrem Rollstuhl vor der Terrassentür. Jeden Morgen kommt eine Pflegerin vom Gesundheitsdienst, um ihr aus dem Bett zu helfen, Frühstück zu machen und sie anschließend vor die Tür zu rollen, damit sie »ein bisschen an die Sonne kommt«. Gloria sitzt mit gesenktem Kopf da, die Augen auf das helle Metall ihrer Armlehnen geheftet. Sie sitzt an der Stelle, wo ihre Tochter vor langer Zeit mit Theo stand, während Felix am Ende des Gartens ein Lagerfeuer anzündete. Die Pflegerin hat Gloria in der Früh die Haare gebürstet, ihre Kopfhaut prickelt noch von den Borsten, und der tropfende Wasserhahn irritiert sie. Das Geräusch wirft ihre Gedanken aus der Bahn: Sie denkt an ein Telegramm, an den Boten, der an die Tür kam und sagte: Telegramm für Sie, Missis - PLICK -, sie denkt an eine Teekanne, die sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hat, ein schönes Stück mit einem Goldrand, der sich natürlich nicht lange hielt, weil die Putzfrau beim Spülen unbedingt einen Scheuerschwamm benutzen musste - PLICK -, sie denkt an einen Tagesausflug nach Clacton, bevor er in den Krieg zog, dass es an dem Tag nach Regen aussah und dass er, während er ihre Hand hielt, sagte, der Himmel sei chiaroscuro , was sie hinterher nachschlagen musste …
    Gloria ist schon
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