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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin
Autoren: Heinrich Steinfest
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Freilich weniger routiniert als Ivo, der sich ärgerte, daß Lilli und Fontenelle dem Jungen erlaubt hatten, ihm zu folgen. Man befand sich immerhin in beträchtlicher Höhe.
    Â»Du solltest nicht …«
    Â»Ich bin weiterhin Ihr Führer«, erinnerte Spirou an seinen Auftrag und seine Funktion.
    Nun, Ivo empfand den Jungen immer mehr als das Kind, das er zu schützen gedachte. Andererseits kann der Raum mitten in einem Baum ganz sicher als passender Ort für einen Dreizehnjährigen angesehen werden.
    Ivo reichte Spirou die Hand und zog ihn hoch, so daß der Junge auf einer stabilen Astgabel zum Sitzen kam. Er war jetzt so nah, daß er die Abbildung auf dem Zettel sehen konnte, den Ivo noch immer in der einen Hand hielt.
    Â»Ein Mottenmann«, sagte Spirou.
    Â»Was?«
    Â»Die Figur auf der Zeichnung. Man könnte das für einen Mottenmann halten. Haben Sie den Film gesehen? Die Mothman Prophezeiungen mit Richard Gere.«
    Â»Ich schaue mir keine Filme mit Richard Gere an.«
    Â»Der Film war ab zwölf Jahren«, rechtfertigte sich Spirou, als wäre er bereits ein behütetes Westkind. Dann erklärte er, diese Geschichte handle von sagenhaften Wesen, die im Vorfeld einer Katastrophe auftreten. Fliegende Kreaturen mit riesenhaften Fledermausflügeln, die angeblich auch wirklich existierten. Zumindest waren sie 1967 vermehrt gesichtet worden, bevor dann eine Brücke in Point Pleasant eingestürzt war.
    Doch Ivo erwiderte: »Also für mich ist das ganz einfach die Zeichnung eines Schmetterlings.«
    Â»Und was tun Sie damit?«
    Â»Erinner dich. Das war der zweite Zettel, den mir Lopuchin gab. So soll der Deckel der Schatulle aussehen.«
    Spirou nickte. Sodann begann er, eingehend den Stamm zu studieren, wobei er jetzt seinerseits an Lopuchin gemahnte, weil dieser ja erklärt hatte, der Schatullendeckel sei vollständig mit Borke verziert. Spirou fuhr mit der Hand über die Rinde und wandte sich nun in die Richtung, in die der Baum zuvor Ivo gelenkt hatte.
    Â»Da ist es!« rief Spirou und zeigte auf eine Stelle des Stamms.
    Endlich konnte auch Ivo es erkennen. Dasselbe Muster, das auf der Tuschzeichnung an irgendein Flattertier erinnerte – sagenhaft oder naturwissenschaftlich, egal –, bildete an dieser Stelle einen Teil der Rinde. Keineswegs deutlich hervorstechend, sondern versteckt, allein erkennbar für den, der wußte, wonach er zu suchen hatte. Wobei mitnichten eine absichtsvolle Ritzung vorlag, sondern ein Produkt der Natur, ein gewachsenes Muster.
    Ivo drehte weiter seinen Kopf, um den hölzernen Faltenwurf mehr von der Seite her betrachten zu können. So geschah es, daß er die feine Linie wahrnahm, die um das Muster herum eine präzise viereckige Form ergab. Er ging jetzt noch näher heran und legte sein Ohr an die Stelle. Doch in einer Welt, in der alles seine Ordnung hatte und nicht etwa Fantasy-Autoren die Wirklichkeit bestimmten, waren zwar Bäume und Menschen der Sprache mächtig, aber Schatullen natürlich nicht.
    Statt des Ohrs plazierte Ivo nun seine Hand auf das Muster und drückte leicht gegen die Rinde. Er spürte, wie das Holz nachgab und mit einem leisen Knacken einen Mechanismus auslöste. Von kleinen Federn angetrieben, sprang der rechteckige Korpus ein kurzes Stück nach vorne, so daß er jetzt mit einem halben Zentimeter die Oberfläche des restlichen Stamms überragte. Mit seinen Fingernägeln fixierte Ivo die Kanten und zog das Kästchen aus seiner Höhlung heraus.
    Er stellte fest: »Da hat sich einer mit der Tarnung wirklich Mühe gegeben.«
    Â»Vor allem«, mischte sich jetzt wieder der Baum ein, »hat er mir ein Stück aus meinem Fleisch geschnitten, um sein Zeug hier oben unterzubringen.«
    Â»Lopuchin?«
    Â»Woher soll ich seinen Namen wissen?«
    Â»Ein kleiner, dünner Kerl mit abstehenden Ohren«, beschrieb ihn Ivo.
    Â»Du bist auch ein kleiner, dünner Kerl. Andere würde ich gar nicht so weit hinauf lassen. Aber das mit den Ohren könnte stimmen.«
    Nicht, daß Spirou dieses Gespräch verfolgen konnte. Er war kein Baumversteher, aber er hatte mit dem für Kinder typischen präzisen Schatzsucherblick die richtige Stelle ausgemacht.
    Ivo wog die Schatulle in den Händen. Sie fühlte sich ungemein leicht an. Eher wie ein Karton. Die Seitenflächen und der Boden bestanden aus glattem, schwarzlackiertem
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