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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin
Autoren: Heinrich Steinfest
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hauptsächliches Dilemma darin bestand, einerseits, wie die Menschen auch, ohne die Aufnahme von Wasser nicht existieren zu können, andererseits den Regen aus nachvollziehbaren Gründen fürchten zu müssen. Denn der Erhalt der Tarnung schien für sie von größter Bedeutung. Es hätte ansonsten viel mehr Sichtungen dieser Wesen geben müssen, mehr Beweise für deren Existenz.
    Somit war naheliegend, daß ihr Geschick, Wasser aufzunehmen, aber eine Benetzung ihrer Haut zu vermeiden, beträchtlich sein mußte. Spüren freilich konnte man sie immer wieder: ihre Präsenz, ihr Dabeisein vor allem in den Innenräumen, ihr Zuhören bei unseren Gesprächen, ihr Aushorchen unserer Seelen, ihre feinen Einflüsterungen, ihr Klopfen, ihre Schritte, ihre Berührungen, wenn sie uns über die Haare strichen, ihr Gewicht, wenn sie, während wir schliefen, auf unseren Brüsten hockten und uns Alpträume vom Ersticken bescherten, während natürlich andere der Versuchung erlagen, uns geschlechtlich nahezukommen, und damit Träume von ganz anderer Art provozierten.
    Warum sie all dies unternahmen, aus ihrer Unsichtbarkeit heraus den Menschen nahe waren, unter ihnen lebend, vertraut und fremd zugleich, geisterhaft und dennoch vollkommen stofflich, nun, das war kaum zu sagen, auch kein Thema der Wissenschaft, weil eben selbst die Wissenschaft nichts von ihrer Existenz wußte. Dieses eine Ohr, das hier im Weinrot der Schatulle lag, stellte ein Novum dar. Es war nicht auszuschließen, daß es ebenfalls einer van-Gogh-artigen Situation zu verdanken war, indem eben eines dieser Lebewesen … nennen wir sie behelfshalber die »Unsichtbaren«, sich also einer der Unsichtbaren eins seiner Ohren abgeschnitten und solcherart die Kontrolle über einen Körperteil verloren hatte. Im Grunde unentschuldbar für eine von ihrer Tarnung lebende Gattung, die möglicherweise seit Jahrhunderten unentdeckt inmitten der Menschheit existierte. (Übrigens bestand eine ähnliche Theorie, nach welcher eine außerirdische Kultur in der Gestalt von Kindern unter uns lebte, ein Kinderleben vortäuschend, in die Schule gehend, sich kindhaft gebend, die Kinderzimmer als Schaltzentralen ihrer Rasse benutzend, nicht zuletzt Erwachsene manipulierend, die sich als Eltern dieser Kinder wähnten. Nur die Kinder selbst, die richtigen Kinder, bemerkten hin und wieder, daß sich fremde Wesen unter ihnen aufhielten, Wesen, denen es an einer gewissen infantilen Bösartigkeit mangelte, Wesen, deren Beeinflussungsmethoden einer höheren Sache dienten und nicht dem egoistischen Antrieb, mehr Schokoladetafeln als jemand anders zu besitzen.)
    Man kann sich nun vorstellen, welchen hohen Wert dieses eine Ohr besaß. Einerseits als Beweis für die Existenz einer solchen fremden Rasse, vor allem aber auf Grund seiner Fähigkeit, unsichtbar zu werden, sobald das Wasser wieder verdunstet war. Am wichtigsten freilich war das Vermögen dieses Teils eines Organs, sich unabhängig von einem Blutkreislauf selbständig am Leben zu halten. Für wie lange, war die Frage. Aber offensichtlich lange genug, um weiterhin den Zustand der Unsichtbarkeit aufzunehmen beziehungsweise im gegenteiligen Zustand nicht wie ein angefaultes Zombieohr auszusehen, weder bleich noch blutarm, sondern ganz so, wie man sich das bei einem leicht sonnengebräunten Ohr eines durchschnittlichen Mitteleuropäers vorstellte, ohne jetzt behaupten zu können, die Unsichtbaren würden in ihrer gesamten Erscheinung an durchschnittliche Mitteleuropäer erinnern.
    Vom Ohr auf das Ganze zu schließen wäre nun sicher Aufgabe der Wissenschaft gewesen. Das einzige aber, was bislang analysiert worden war, war jene Substanz, die fälschlicherweise einer unbekannten Varietät der Dahurischen Lärche zugeordnet worden war, in Wirklichkeit aber aus diesem Ohr stammte. Nicht die Absonderung eines Lärchenzapfens, sondern die eines äußeren Gehörgangs, welche, wie es schien, einmal isoliert vom Ohr, dauerhaft sichtbar wurde. Zudem war diesem Sekret jene intensive Geruchsentwicklung zu verdanken, die Ivo gleich beim Öffnen der Schatulle bemerkt hatte, allerdings nicht aasartig, wie von den Bremern behauptet, vielmehr breitete sich eine schwer zu identifizierende Mixtur aus: Gutes und Schlechtes, Fauliges und Frisches, Natürliches und Künstliches. Ein Rosengarten, der sich an eine
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