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Die Haischwimmerin

Die Haischwimmerin

Titel: Die Haischwimmerin
Autoren: Heinrich Steinfest
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Holz.
    Â»Mach das Ding endlich auf«, forderte der Baum. »Bei soviel Theater fragt man sich ja schon …«
    Ivo versuchte, den Deckel anzuheben, doch entweder gab es ein Schloß, das er noch nicht entdeckt hatte, oder die Öffnung war verklebt worden. Ivo sagte, jetzt allerdings hörbar, so daß auch Spirou ihn verstehen konnte: »Geht nicht.«
    Â»Was geht nicht?« fragten Spirou und der Baum fast gleichzeitig.
    Â»Es läßt sich nicht öffnen.«
    Â»Brich es auf!« meinte der Baum.
    Â»Lieber nicht. Wer weiß, vielleicht würde ich uns auf diese Weise in die Luft sprengen.«
    Â»Vielleicht würdest du mir auf diese Weise einen Gefallen tun.«
    Â»Ach geh! Komm mir nicht damit. Ich hab genug Bäume erlebt, die lebensmüde waren. Du bist keiner von ihnen.«
    Der Baum lachte abfällig. Dann schwieg er auf diese trompetenhafte Weise, die auch viele Menschen praktizieren, vor allem die Frauen. Keine Frage, er war ein koketter Kerl.
    Nicht aber Spirou, der vorschlug, wieder nach unten zu klettern, um sich dort die Schatulle genauer anzusehen und eine Öffnung zu bewerkstelligen. Wenn nötig, Werkzeug einsetzend.
    Ivo verknotete die Schatulle in sein T-Shirt, nahm nun ein Seil, mit dem er Spirou sicherte, und gemeinsam kletterten sie auf dem koketten Kerl, der hier der Baum war, abwärts. Zuerst ließ Ivo Spirou nach unten rutschen, dann folgte er und landete auf eine federnde Weise auf dem Waldboden. Und in der Tat, da war kein Halm, der sich beschwert hätte.
    Â»Der Baron auf den Bäumen«, zitierte Madame Fontenelle den berühmten Roman von Italo Calvino.
    Und Lilli meinte, eingedenk ihrer ersten Begegnung mit Ivo: »Ein blinder Engel.«
    Und Spirou kommentierte, als wollte er einer Gruppe von Comicfreunden seinen künftigen Adoptivvater eindrücklich beschreiben: »Elegant wie Batman. Gewandt wie das Marsupilami.«
    Galina sagte nichts, sie hatte Ivo gewissermaßen von der Liste der Suppenesser gestrichen. Nicht aus Eifersucht. Aber es war eben eine kurze Liste mit wenig Platz. Kam einer dazu, mußte einer weg. – Sie zündete sich eine Zigarette an, nahm sie von ihren Lippen herunter und steckte sie Kallimachos in den Mund.
    Â»Du hättest den Jungen nicht hochsteigen lassen dürfen«, wandte sich Ivo an Lilli, gab aber zu, daß er ohne Spirous Hilfe wohl noch ewig lange in der Baumkrone hätte zubringen müssen.
    Â»Na, siehst du«, sagte Lilli und meinte dann lächelnd, »außerdem kann der Bub ja bestens klettern. Das muß er von dir haben.«
    Ivo verzichtete auf den Einwand, der sich angeboten hätte, zog die Schatulle unter seinem Hemd hervor und betrachtete sie im klaren Licht. Hier erkannte er nun das Nummernschloß, das in die vordere Seitenfläche eingelassen war und die gleiche dunkle Farbe wie das Holz besaß. Ausgestattet mit drei Zahlrädern. Es brauchte also eine dreistellige Ziffer, um dieses Schloß zu öffnen. Ivo dachte an Schnee, an polnischen Schnee, Schnee auf den Straßen einer Stadt. Er dachte an Warschau. Er dachte an einen jungen Mann, der Epstein hieß und dem er einen dreistelligen Code genannt hatte, nur, daß Epstein überraschenderweise damit nichts hatte anfangen können: fünfhundertneunundzwanzig. Das war die Zahl, die der Anwalt Kowalsky ihm, Ivo, mit auf den Weg gegeben hatte, ohne einen präzisen Zweck zu verraten, außer, daß es sich um den Decknamen dieser abenteuerlichen Unternehmung handle.
    Fünfhundertneunundzwanzig!
    Das war ganz sicher der Moment, der sich bestens eignete, selbige Zahl versuchsweise zum Einsatz zu bringen. Ivo Berg drehte an den drei Rädern und führte sie auf die entsprechende Position. Mit dem gleichen Geräusch, mit dem zuvor die Schatulle aus dem Baum gesprungen war, klappte nun der Deckel ein kleines Stück hoch und gab einen Spalt frei. Einen Spalt, den Ivo zur vollkommenen Öffnung erweiterte.
    Â»Und?« fragte Lilli.
    Ein jeder machte zu dieser Frage das passende Gesicht.
    Ivo hielt das Behältnis, dessen Innenraum mit einem weinroten Samtbelag ausgeschlagen war, den anderen entgegen, damit sie sehen konnten, was er ihnen verriet: »Die Schatulle ist leer. Sie … ja, sie riecht. Das schon. Aber … da ist nichts drin.«
    Er konnte nicht sagen, wonach es roch. Dieser Geruch lag irgendwo in der Mitte von allem, gleichzeitig ein Wohlgefühl wie einen
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