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Die Haie vom Lotus-Garten

Die Haie vom Lotus-Garten

Titel: Die Haie vom Lotus-Garten
Autoren: Stefan Wolf
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folgerte
Klößchen messerscharf.
    Tim pflückte sie herunter, eine
halbe Seite Schreibmaschinenpapier.
    „Heh, du!“ las er vor. „Ich
habe dich im Wald beobachtet. Dich und deine Freundin. Die habe ich inzwischen
in meine Gewalt gebracht. Wenn du das Geld behälst, füge ich ihr Schmerzen zu —
und Schlimmeres. Bring die Tasche mit allem Inhalt sofort in das Parkhaus
Berliner Straße. Viertes Parkdeck, hintere Ecke links. Dort steht ein Karton.
In den legst du die Tasche hinein. Dann lasse ich deine Freundin frei.“
    Tim ließ den Zettel sinken.
    Klößchen schnappte nach Luft.
„Das... der... O Gott!“
    Tim war fast so weiß geworden
wie das Papier.
    „Wenn der Gaby was antut,
bringe ich ihn um.“
    Sprach’s, machte kehrt und
rannte ins Haupthaus zurück.
    Klößchen folgte ihm und war so
aufgeregt, daß er unbedingt Schokolade brauchte zur Beruhigung. Zum zweiten Mal
verschluckte er sich dabei, aber jetzt klopfte ihm niemand auf den Rücken.
    Tim war schon in der
Telefonzelle Besenkammer, hatte den Hörer am Ohr und wählte mit
zitternden Fingern die Glocknersche Rufnummer.
    Er hörte das Läuten: dreimal,
viermal, fünfmal...
    Gaby! dachte er. Nimm ab! Melde
dich! Es ist doch nur ein Bluff! Der Ganove will mich linken. Woher kennt der
mich eigentlich? Woher weiß er, welches mein Bike ist? Ist der Bankräuber von
hier? Ein Pauker? Das Wort behältst hat er falsch geschrieben. Absicht?
Dann ist es ein Deutschlehrer. Blödsinn! Ich spinne. Heh, Gaby! Pfote! Du bist
da. Nun nimm endlich ab! Ich will deine Stimme hören! Deinen Namen! Dein Hallo!
    Aber niemand meldete sich. Bei
den Glockners war keiner zu Hause.

3. Das K. o-Tropfen-Pärchen
     
    Etwa zur gleichen Zeit hatte
das Café LEYCHTSÜNN in der Maulbrandt-Straße, also inmitten der Innenstadt,
noch geöffnet. Manche Gäste hockten hier stundenlang, lasen Zeitung,
spachtelten nachmittags Torte und labten sich jetzt, am Abend, an den Für-den-kleinen-Hunger-Gerichten
von der Imbißkarte.
    Das LEYCHTSÜNN ist beliebt,
alles, was serviert wird, ist preiswert und gut. Meistens muß man kämpfen um
einen Platz; und so kommt es, daß oft fremde Leute an einem Tisch
zusammensitzen. Man erkennt sie am Schweigen, was aber kein verläßliches
Merkmal ist. Denn auch jene, die sich schon lange kennen, haben sich manchmal
nichts mehr zu sagen.
    Kurz nach 19 Uhr betraten
Traugott Brigg und Michaela von Kante das Café.
    Sie sahen sich kurz um und
entdeckten freie Stühle an einem Tisch, der ihnen gefiel. Ein einzelner Herr
saß dort, glättete mit dem linken Zeigefinger seinen weißen Schnauzbart —
gedankenverloren — und hielt rechtshändig ein Journal, eine Frauenzeitschrift
im Hochglanz-Format. Dieser Herr hieß Benjamin Rath-Stubenfrey, trug einen
teuren Maßanzug mit grauen Nadelstreifen und war ein pensionierter
Verwaltungsbeamter der höchsten Ebene.
    Traugott und Michaela traten
zum Tisch und fragten, ob hier noch frei wäre.

    Rath-Stubenfrey nickte, und die
beiden setzten sich.
    Traugott haßte seinen Vornamen,
hatte aber seinen Eltern verziehen, denn die hatten es nicht böse gemeint. Er
war 22, Student der Rechtswissenschaft, groß, schlank und etwas schwächlich in
den Schultern. Seinem Gesicht sah man an, daß er sich nicht gut durchsetzen
konnte. Und so verlief auch sein Leben. Er setzte sich von einer Tinte in die
nächste.
    Michaela war ein Jahr älter als
er und fühlte sich als seine große Schwester, obwohl sie seine Freundin war.
Sie arbeitete als Kindergärtnerin, hatte aber kürzlich ihren Job verloren. Eine
Katastrophe! Denn Michaelas Mutter war chronisch erkrankt, ein Pflegefall,
erhielt nur eine ärmliche Rente; und der Vater — Eduard von Kante — hatte schon
lange das Zeitliche gesegnet. Er war verarmter Adel gewesen und nicht sehr
lebenstüchtig.
    Michaela hatte milchweiße Haut,
eine etwas pummelige Figur, Grübchen in den Wangen und eine feuerrote
Haarpracht — mit einer Naturkrause, gegen die kein Kraut gewachsen war. Da
hätte nur ein Kahlschnitt geholfen. Auch jetzt füllte die Krause die Kapuze des
Anoraks wie Gänsefedern ein Kopfkissen. Traugott nahm seiner Freundin die Jacke
ab.
    Die Bedienung kam und sagte:
„Bitte sehr?“
    Rath-Stubenfrey fühlte sich
angesprochen und löste den Blick von einem Journal-Bericht über ewige Jugend,
Total-Fitness, zeitlose Schönheit und dauerhafte Beliebtheit beim anderen
Geschlecht — in diesem Fall bei den Männern.
    „Bitte, noch einen Tee.“
    Es war der fünfte.
    „Für mich
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