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Die Händlerin von Babylon

Die Händlerin von Babylon

Titel: Die Händlerin von Babylon
Autoren: Suzanne Frank
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eine Familie sah, die ihre Sachen zusammenpackte. Die Familienmitglieder unterhielten sich in einem asiatisch klingenden Idiom, einem tonalen, von scharfen Vokalen akzentuierten Singsang. Ihre Nachbarn schauten fassungslos zu und rätselten laut, warum sie plötzlich in fremden Zungen zu babbeln begonnen hatten.
    Babbeln.
    Die Zeltstadt war in Auflösung begriffen. Menschen brüllten sich in Sprachen an, mit denen Chloe nicht das Geringste anfangen konnte. Müll und Unrat hinterlassend, verfluchten sie jene, die eben noch ihre Freunde gewesen waren. Und wander-ten davon.
    Chloe rannte zurück an ihren Arbeitsplatz, wo sich das gleiche Schauspiel bot. Ziegel flogen, Fäuste flogen, Haare wurden ausgerupft. Und die Menschen wanderten davon.
    Statt den vierzig Ziegeln, die sie jeden Tag bemalen sollte, brachte sie nur zehn zustande. Und auch die wurden nicht ausgeliefert, weil der Mann mit der Schubkarre sich nicht mehr mit der Frau, die ihm die Ziegel aushändigte, einigen konnte, wohin sie gebracht werden sollten. Ein einziges Tohuwabohu.
    Als sie die Spitze der Esagila erreichte, stellte sie fest, dass der Bau nicht mehr gewachsen war.
    Chloe eilte zurück in ihr Zimmer.
    »Wir sind in Babylon!«, rief sie. »Darum sind wir hier!«
    »Das haben wir doch schon gewusst«, beschwerte sich Cheftu. »Das haben wir von Anfang an gewusst.«
    »Cheftu, hör mir zu. Die Sprachen, die dir entfallen sind. Hast du sie hier jemals verwendet?«
    »Warum sollte ich? Hier spricht man Sumerisch.«
    Sie klatschte die Hand auf seinen Schenkel. »Versuch dich zu erinnern. Latein, Chinesisch - hast du dich jemals mit irgend-wem in einer dieser Sprachen unterhalten? Hier?«
    Verschlafen und verknittert setzte er sich auf. »Ich glaube nicht.«
    »Aber du weißt es nicht mit Sicherheit?«
    »Warum sollte ich so etwas tun?«
    »Ich weiß es nicht, aber mir fällt kein einziges griechisches Wort mehr ein, Cheftu.« »Na wunderbar. Dich habe ich also auch vergiftet. Deine Augen werden Sonnenblu-«
    »Sei mal still!«
    Jetzt hörte er ihr wirklich zu.
    »Jedes Mal, wenn ich mit Fla und Samu gegessen habe, haben wir ... also, bei jedem Essen haben wir uns in einer anderen Sprache verständigt.«
    »Du bist noch kränker als ich.« Er fasste nach ihrem Puls.
    Chloe entzog ihm ihre Hand. »Mir erschien das so weit hergeholt, dass ich tatsächlich dachte, ja, ich verliere den Verstand, auch weil niemand auf den Sprachwechsel reagierte. Das Gespräch plätscherte einfach dahin, wie es bei mehrsprachigen Menschen oft geht. Eine Bemerkung, die Sprache wechselt, und alle reden weiter. Aber Cheftu, jede Sprache, die ich mit ihnen verwendet habe, ist weg.«
    »Aus deinem Kopf?«
    Sie nickte.
    »Das ist einfach unmöglich.«
    »Was?«
    »Es ist unmöglich, dass einem die Sprache aus dem Kopf oder gar aus dem Mund gestohlen wird. Es dauert Jahre, bis man sie erlernt hat, bis -« Er verschränkte die Arme und klappte die Augen zu. »Ich schlafe jetzt wieder.«
    Wütend starrte Chloe auf seine geschlossenen Augen, dann stand sie auf und marschierte in ihrer drei auf drei Meter großen Kammer auf und ab.
    »Wir sind durch die Zeit gereist. Das ist auch unmöglich«, brachte sie vor. »Wir haben gesehen, wie sich Wasser in Blut verwandelt. Wir haben gesehen, wie nur die Erstgeborenen sterben. Wir haben gesehen, wie sich ein Meer teilt. Wir sind unsterblichen Menschen begegnet. Wir haben miterlebt, wie eine Zivilisation an einem einzigen Tag und in einer einzigen Nacht untergeht. Wir haben gesehen, wie Blitze zum Bündel zusammengefasst werden. Wir haben Menschen, die wir aus der Geschichte kennen, leben und atmen gesehen. Cheftu, bei Gott! Wir leben im Körper fremder Menschen! Unser ganzes Leben besteht aus Unmöglichkeiten!«
    Er rührte sich nicht.
    Sie war ziemlich sicher, dass er sich nur tot stellte.
    »Dann versuch’s mal damit, Mr. Unmöglich. Der Turm von Babel ist in Wahrheit ein Apartmenthaus, und du wohnst mittendrin, Baby.«
    Als Chloe im Sonnenaufgang zur Spitze hochstieg, erkannte sie, dass ein Drittel der Zelte bereits abgebaut waren. Ein Drittel der Menschen war weggezogen. Manche davon vor so kurzer Zeit, dass man sie noch nach Norden, Süden, Osten, Westen und in sämtliche dazwischen liegenden Himmelsrichtungen abziehen sehen konnte. Es wurden keine Bäume mehr gefällt. Der Fluss wurde nicht weiter trocken gelegt. Der Bau lag brach. Die meisten Menschen stritten. Die Stimmen drangen bis zu ihr herauf, bis sie wünschte, sie hätte eine
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