Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern
Autoren: Leif Davidsen
Vom Netzwerk:
und Raucherpolitik heißen. Letzteres wurde mit einer Verbissenheit diskutiert, daß man sich in eine Zeit versetzt fühlte, in der es um die Notwendigkeit der Revolution und den kurz bevorstehenden Sieg der Arbeiterklasse ging. Die Welt war nicht mehr zu verstehen, und keiner interessierte sich mehr für mein Wissen. Ich war wie ein Bildhauer, der einst für sein Talent, einen schönen Lenin aus kaltem Marmor schlagen zu können, den ersten Preis erhalten hatte. Was ich wußte und konnte, war nutzlos geworden.
    Nur die kleinen Gruppen an der Uni, die den Elan hatten, die Geschichte der Sowjetunion zu studieren, waren noch an Informationen über Malenkow, Berija oder Breschnew interessiert. Wer hat heutzutage noch Lust, sich mit dem gescheiterten 22. Fünfjahresplan vertraut zu machen oder nach dem XXVI. Parteikongreß zu fragen? Das Kapital hatte die Schlacht gewonnen. Der Siegeszug des Marktes lud nicht zu Utopien und großen Entscheidungen ein. Und die Früchte des Sieges waren so bitter wie eine verschimmelte Zitrone an einem dunklen Novembertag im früheren Moskau, das mich heute mit seinen Coca-Cola-Reklamen, Marlboro-Cowboys, dem idiotischen, lallenden Jelzin, neureichen Mafiosi und bettelnden kleinen Jungs an ein Land der Dritten Welt erinnerte. Es könnte ebensogut Brasilien sein. Oder Obervolta. Nur die Atomwaffen machten den Unterschied. Sonst würde sich kaum noch jemand für Rußland interessieren. An Moskau oder dem russischen Bären war eben nichts Besonderes oder knurrend Gefährliches mehr. Es herrschte einfach ein großes Durcheinander, das die Welt eigentlich einen Dreck kümmerte.
    Ich hatte die dahingeschmolzene Ordnung satt, und ich hatte mich selber satt. Ich lag auf dem breiten Bett eines neuen Hotels in der armen slowakischen Hauptstadt und wußte genau, warum ich mir so furchtbar leid tat. Warum ich nach dem Abendessen in der Bar hängengeblieben war, um erst Kognak und später Whisky zu kippen. Es war das Treffen mit dem ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten vor zwei Tagen in Prag, das mir den Spaß an der Reise verdorben hatte. Daß ich Zahnschmerzen hatte, machte meine Laune nicht besser. Der hinterste Backenzahn pochte. Er erinnerte mich ausdauernd daran, daß der ganze Kadaver schon ziemlich verschlissen war. Daß es für mich in jeder Beziehung bergab ging. Lichtere Haare, weniger Gehirnzellen, schlechtere Zähne, beim Treppensteigen außer Puste, die Libido auf dem Rückzug. Aber ich mußte zugeben, daß es der frühere tschechische Ministerpräsident war, der mir die letzten Reste meiner guten Laune geraubt hatte.
    Hier lag ich mit Zahnschmerzen in diesem faden Hotel und hörte wieder und wieder die bewußt böswillige Präsentation meiner Wenigkeit durch den Delegationsleiter. Mit ein paar gutgewählten Worten nahm er dafür Rache, daß ich vor zwölf Jahren Projektgelder beim Forschungsrat abgesahnt hatte. Demütigungen vergißt man nicht in der akademischen Welt.
    Er hatte in seinem schlechten Englisch gesagt:
    »Und hier ist also Herr Theodor Nikolaj Pedersen. Einer unserer führenden Experten und Forscher sowjetischer Verhältnisse. Besonders der Breschnew-Jahre.«
    Der frühere Ministerpräsident mit seinem perfekten Haarschnitt und dem tadellosen Anzug hatte mich mit seinen eisblauen Fischaugen angeglotzt und gesagt:
    »Was für unnütze Informationen, die Sie da in Ihrem Kopf herumtragen.« Und dann hatte er seinen Röntgenblick auf die junge Lena gerichtet. Die mit den langen Beinen und der nützlichen Abschlußarbeit über »Transitionsprobleme in der Phase zwischen Planwirtschaft und dem globalen Markt. Eine Studie der verschiedenen Optionen«.
    »Sehr brauchbares Wissen – auch für uns«, hatte der arrogante Großkotz gesagt und hatte sowohl ihre Hand als auch ihren Blick einen Tick zu lange festgehalten, bevor er, die Augen auf das verborgene und doch so offenbare Geheimnis ihres Wonderbras gerichtet, ihre Hand losließ, so daß die sonst so abgebrühte Lena rote Ohren bekam. Macht ist ein enormes Sexsymbol, und außerdem hatte sich der Tscheche unverschämt gut gehalten.
    Fuck them all! Fuck die neue Zeit! Alles Schrott, wie eines meiner vielen Kinder gesagt hätte. Aber ich kriegte selber rote Ohren, denn die Sache traf mich an meiner empfindlichsten Stelle. Ich versuchte, mich daran aufzurichten, daß ich doch eine ansehnliche akademische Karriere gemacht hatte, und die konnte mir keiner wegnehmen. Immerhin hatte ich einen Doktor in Geschichte. Meine Arbeit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher