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Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern
Autoren: Leif Davidsen
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Teddys point of view aus zu erzählen, wie sie es in den Tempeln der Dramaturgie nennen. Den angehenden Interpreten jener Menschen, die mit versteckten Informationen und der ewigen Doppelnatur des Verrats handelten, sollte damit ein erster Eindruck von dem Akademiker Theodor Nikolaj Hansen vermittelt werden, von seiner zwiespältigen Rolle und der allgemeinen Bedeutung der Geschichte und der Familie. Und vielleicht sollte auch diskret unterstrichen werden, daß beim Besorgen von Informationen und besonders bei ihrer Interpretation eine kräftige Prise Subjektivität dabei war. Letzten Endes handelte es sich um den Menschen, und der war nun mal unvorhersehbar. Derlei Begriffe pflegte die Vuldom zu gebrauchen, obwohl sie den Kandidaten doch beibringen sollte, wie man die vielen schwachen Punkte des Menschen vorhersehen konnte. Statt dessen blickte sie über die erlesene Versammlung, die da im Ausbildungszentrum der Reichspolizei in Avnø an der südwestlichen Spitze Seelands vor ihr saß. Kandidaten mit ihren Notizblöcken auf den Pulten und Kugelschreibern oder Filzstiften in der erhobenen Hand, die auf die weisen Worte und die pädagogischen Kurven auf dem Overheadprojektor warteten. Den einfachen Ausweg des Projektors benutzte Vuldom selten. Statt dessen begann sie oft mit der Beschreibung eines Bildes.
    Eine kleine Gruppe von Menschen in einem Wald westlich von Narva im nun freien Estland, an einem Morgen im Juni. Alles ist grün und sauber, das einzige Geräusch ist das Singen der Vögel. In der Nacht hat es geregnet, Tropfen hängen wie feine, kleine Perlen an Blättern und Halmen. Es sind sechs Männer und eine Frau. Still stehen sie vor einem Granitstein und schauen ihn an. Einer der Männer muß sich auf einen Stock stützen. Er hat Tränen in den Augen. Er dürfte auf die Achtzig zugehen, mit seinem Haarkranz und den eingefallenen, kleinen Augen. Seine Haut ist dünn und runzlig, sie sieht aus, als könnte sie reißen, wenn man daran kratzte. Aber er hält sich gerade. Die anderen Männer sind in den Fünfzigern, in den verschiedenen Verfallsstadien, in denen sich Männer mittleren Alters nun einmal befinden. Die einen haben eine Halbglatze, die andern einen Bauch, aber allen ist auch eine gewisse Entschlossenheit eigen, als hätten sie eine lange Reise unternommen und nun endlich ihr Ziel erreicht. Die Frau unterscheidet sich von ihnen. Sie ist um die Sechzig, auch ihr Körper ist vom Alter gezeichnet, was ihr eleganter Hosenanzug aber gut verbirgt. Sie hat kurzes graues, nur leicht getöntes Haar, schöne, starke, mit Rot nachgezogene Lippen und grüne, scharfe Augen im etwas schiefen, aber trotzdem wohlproportionierten Gesicht. Sie ist schlank, den Kopf hat sie ein wenig gebeugt. Sie hält einen Strauß Rosen in der Hand. Es ist ganz still. Nur das Gezwitscher der Vögel und das Rascheln der Schuhe im nassen Gras. Das Geräusch eines Flugzeugs in der Ferne an dem blauen Himmel mit einigen Schäfchenwolken. Dann tritt sie einen Schritt vor und legt vorsichtig, als wäre er aus Porzellan, den Blumenstrauß vor den groben bräunlichen Granitstein. Die roten Rosen leuchten im grünen Gras neben den Resten schwarzer Erde, die noch von der Errichtung des Steins übriggeblieben sind. Sie tritt zurück und sieht aus, als wollte sie sich das Wappen mit dem Dannebrog einprägen und als läse sie den Text, um ihn nie zu vergessen. Dabei kann sie ihn längst. Ich kann mir vorstellen, daß in ihrem Gesicht endlich Frieden herrscht, als sie den Text innerlich laut liest wie ein Kind, das eben die Magie der Buchstaben entdeckt hat, sie aber, um sie zu verstehen, im Innern laut vor sich hin sagen muß.
    »Regiment Dänemark. Kroatien-Rußland. Estland-Lettland. Kurland-Pommern-Berlin. Zum Gedenken an jene, die teilnahmen.« Liest sie laut, ohne die Lippen zu bewegen.
    Regungslos stehen sie da, eine Gruppe gutgekleideter, moderner Menschen in einem Wald in Narva in Estland.
    »Das war’s«, sagt der Älteste von ihnen.
    »Das war’s«, sagt die Frau. »Und es wurde Zeit.«
    »Das war’s«, sagt der Älteste noch einmal und legt die Betonung auf das erste Wort: »Das war’s.«
    Und dann wieder Stille und die Vögel und nach einer Weile das Geräusch von Schuhen im nassen Gras, als sie sich fast wie auf Kommando umdrehen und den estnischen Wald verlassen.
    Daraufhin würde ein anderes Bild gezeigt und Vuldom würde ein Blatt Papier nehmen und über die Lesebrille hinweg die aufmerksam lauschende Schar betrachten, ehe sie
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