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Die goldene Barke

Die goldene Barke

Titel: Die goldene Barke
Autoren: Michael Moorcock
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verwahrlosten
         Säulenhallen blinde Kinder wimmerten. In dem Schloß darunter tanzten zwei Liebende zunächst erwartungsvoll mit Marionetten als Partnern und versöhnten sich schließlich wieder. In den Straßen stolzierten Männer von Café zu Café, tranken aus Flaschen und versetzten in den entsprechenden Abteilungen der Weinläden Stück für Stück ihre Kleider. Als der Morgen kam, wimmerten die Kinder noch immer, und die Liebenden tanzten, aber die Männer waren nach Hause gegangen, und Jephraim Tallow erwachte und befühlte mit seinen Fingern die Mundhöhle. In seinem Mund fand sich kein Blut wie sonst während der letzten Monate.
    Jephraim Tallow ging nackt zu seinem Spiegel und betrachtete seinen seltsamen Körper, der jetzt noch seltsamer war, weil der Nabel fehlte. Das Blut war verschwunden und sein Nabel ebenso. Tallow dachte über diese Entdeckung nach und kehrte mit gerunzelter Stirn ins Bett zurück.
    Tallow erwachte ein paar Stunden später wieder, steckte die Hand in den Mund und fand kein Blut, ließ seine große Hand am mageren Rumpf entlanggleiten und fand keinen Nabel. Er seufzte, erhob sich und zog sich seine Sachen aus Sackleinen an, öffnete die Tür seiner Hütte und schaute hinaus in den dunklen, dunstigen Tag. Der Dunst stieg aus dem Fluß in der Nähe auf.
    »Ich muß dieser Erscheinung nachgehen«, sagte Tallow leise, um seine Mutter nicht aufzuwecken. »Ich habe zuviel Zeit verloren. Ich hätte mich erkundigen müssen … Doch jetzt ist es zu spät.« Er reckte seinen großen Kopf in die Höhe, sann eine Sekunde nach und machte die Tür hinter sich zu. Er ging ein wenig fröstelnd zum Kai und setzte sich nieder. Allein sah er sich sein Spiegelbild in dem bewegten Wasser eines Flusses an, der so groß war, daß man ein Leben brauchte, um ihn zu überqueren. Hoch über Tallow und hinter ihm lagen wie Kissen weiße und silberne Wolkenbänke und ließen den Tag weicher erscheinen. Tallow starrte in die fahle Sonne, und seine Augen waren leer. Tallow war ein Zerrbild und ein Ausgestoßener, war aber glücklicherweise nie um ein Wort verlegen. Die Bürger, die in der verlotterten Stadt hinter ihm hausten, hatten vor ihm Angst.
    Jetzt blickte er aber in die Sonne und dann auf den Fluß, ließ seine abnorm langen Beine über die Kaimauer baumeln, rutschte mit seinem schmalen Gesäß auf dem kalten Stein hin und her und kam fast unmerklich in Laune. Er verengte die Augen und starrte eifrig auf den gekräuselten Fluß, beobachtete dabei die Spiegelung Tallows, des Mannes ohne Nabel. Dann begann er das neue Gefühl aus sich hervorzuziehen und bedächtig ins Bewußtsein zu heben, bis es ihn fast wie ein körperlicher Schock traf, daß er neugierig war. Er fragte sich, was jetzt am Tag wohl unter der geheimnisvollen Oberfläche des Flusses lauerte. Der noch nie dagewesene Gedanke blieb in seinem Schädel, trieb herum und suchte einen Ankerplatz. Die Tiefen und die Beschaffenheit des Wassers hatten ihn immer leise beunruhigt, nun aber dachte er zum ersten Mal darüber nach. Es lag natürlich an dem Schock. Nicht jeden Tag wacht ein Mann auf und entdeckt, daß ihm der Nabel fehlt.
    Der Dunst lag rätselhaft und frostig auf dem Fluß, schön und friedlich in seiner stillen Bewegung, wirbelte umher, änderte sich und verwandelte sich in hundert Tagtraumgestalten. Tallow erhob sich und ging ungeduldig am Kai auf und ab und spähte in den Dunst. Sein Herz schlug wild gegen den fleischlosen Brustkorb, und er kratzte sich nervös die Insektenstiche, die seinen abgerissenen Körper verunstalteten. Er blickte nach rechts, und sein suchendes Auge wurde von einer Bewegung im Dunst gefangen, von einem dunklen Schatten, der eigentümlich dicht und unerschütterlich aussah. Der Schatten kam auf ihn zu und schien sich eher über als durch das Wasser zu bewegen. Ein Schiff hätte in dem unruhigen Gewässer geschwankt, doch dieser Schatten tat das nicht. Er ragte jetzt höher aus dem Dunst hervor, und Tallow schielte in die Höhe und reckte den Hals, um die Form besser sehen zu können. Ihm fiel ein Festtag ein, als er noch klein gewesen war und sein Vater, damals noch nicht unter der Erde, ihm versprochen hatte, ihn zu einer Hexenverbrennung mitzunehmen. Er erinnerte sich daran, weil das bis jetzt das einzige Mal gewesen war, daß er in seinem dumpfen Leib das Beben der Vorfreude gefühlt hatte. Er reckte sich nach vorn, und seine dünne rosige Zunge fuhr über seine weiten Lippen.
    Dann wogte der Dunst im
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