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Die goldene Barke

Die goldene Barke

Titel: Die goldene Barke
Autoren: Michael Moorcock
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Tallow, während er die Barke mit wachsendem Jubel jagt. Ist es Gott, der sich so über mich lustig macht? Er ist noch immer unvernünftig, aber die Unvernunft entstammt seiner Ungeduld, seiner Hochstimmung und nicht der krankhaften, zusammenhangslosen Sehnsucht von früher.
    Die Strömung wird schneller und schneller, immer schneller hinab zum Meer. Tallow hört jetzt die Wellen am unsichtbaren Strand brausen, sieht hinter der Barke eine weite Wasserfläche, größer, als er sie sich je vorgestellt hat. Und seine Hochstimmung verfliegt, während Zweifel ihn erfassen. Seine Angst vor dem Wasser, die alte Angst vor dem Fluß, die Angst vor der Tiefe, diese Ängste nehmen ihn in gräßlicher Umarmung ge fangen. Kann er sich auf den Ozean wagen? Aber was liegt an der Flußmündung? Die Barke wird doch sicher nicht weiterfahren? Im weiten Meeresarm wird er sein Ziel erreichen. Das muß einfach sein.
    Die Strömung nähert sich dem Meer und wird ruhiger, langsamer, und der Fluß weitet sich. Die Barke hält sich genau in der Mitte des Flusses. Zieht weiter, ohne anzuhalten. Tallow schreit hinter ihr her, und die alte Furcht kehrt wieder. »Nein – nicht diesen Verrat! Nein! Bleib, komm zurück! Nicht aufs Meer! Nein, nicht aufs Meer hinaus!«
    Die Barke verrät nicht, ob sie von Tallows Gegenwart weiß. Sie fährt weiter, an der letzten Landzunge vorbei und hinaus aufs Meer.
    Tallow folgt ihr noch. Seine Segel sind im Seewind geschwellt. Sein Boot tanzt und schwankt im Kielwasser der herrlichen Barke weiter. Während sie über den Ozean segelt, den Tallow noch nicht ganz erreicht hat, geht ein neues Strahlen von ihr aus. Sie scheint riesengroß zu werden, ist noch größer als früher. Tallow würgt verzweifelt, und aus seinen geröteten Augen quellen große Tränen. Ein riesiger salziger Tropfen rinnt die Nase entlang und bleibt an der Spitze hängen. Tränen strömen über sein Gesicht und glitzern in den Bartstoppeln. Die goldene Barke zieht weiter, zieht zum Horizont. Sie ist an allen Seiten von tiefem Gewässer umgeben. Ein rätselhafter Ozean, erschreckender als die dunkle See, von der Tallow am Tag von Zhists Revolution gelockt wurde. Was ist der Ozean? fragt sich Tallow. Kann er es wagen, ihn zu überqueren und der Barke zu folgen? Doch was wird er da draußen finden? Den Tod? Oder das Wissen? Ist das eine gleichbedeutend mit dem anderen? Tallow weiß es nicht.
    »Ich muß mich entschließen. Jetzt! Ich muß mich entschließen. Die See ist so groß. Mein Boot ist winzig, und ich bin noch kleiner. Kann ich es wagen? Ist es das Richtige? Ist die Barke das, wofür ich sie hielt? Wirklich? Wenn ich es nur sagen könnte. Wenn sie mir nur ein Zeichen gäbe, dann wüßte ich es, dann würde ich ihr folgen. Aber angenommen, ich habe mich getäuscht? Angenommen, ich bin einem Traum gefolgt, den ich mir selbst ersonnen habe? Nein! Unmöglich! Das kann nicht stimmen! Das darf nicht wahr sein! Ich lasse nicht zu, daß es wahr ist. Der Gedanke ist falsch, denn ich weiß, was die Barke bietet. Ich weiß es intuitiv, tief in meiner zerstörten Seele. Seele? Mein Verstand ist zerstört. Er war nicht groß genug, die Anspannung zu ertragen. War er wirklich zu klein? Hätte ich den goldenen Mittelweg gehen sollen, Mirandas, Mesmers’, Zhists Versuchung erliegen sollen? Dem Gefängnis sogar? Ich weiß jetzt, daß ich überall gefunden hätte, wonach ich mich sehnte. Aber ich wollte Rechte, Vernunftgründe und Toleranz. Der menschliche Geist war nie oder nur selten tolerant. Meiner war es auch nicht, obwohl ich einmal anders dachte. Intoleranz bringt wieder Intoleranz hervor. Es kann da keine Einheit, keine Harmonie geben. Wir sind alle Fragmente, die auf Ziele zutreiben, die es nur zur Hälfte oder vielleicht auch gar nicht gibt. Sie sind unsere Hoffnung, unsere Sicherheit, eine Erklärung für sinnlose Sehnsucht. Es gibt lediglich Verantwortung, Pflichten. Wenn wir nur miteinander mit Worten reden könnten, welche die gleichen Dinge bezeichnen. Wo finden wir ein Ende? Müssen wir immer und ewig den goldenen Barken folgen? Müssen wir immer namenlose Flüsse hinabtreiben, auf namenlose Ziele zu? Zu Ozeanen hin, über die wir nicht zu segeln wagen? Unfähig, unsere Boote mit jemandem zu teilen, wie sehr wir uns auch bemühen? Ich wollte, ich wüßte es. Zu viele Flüsse, zu viele Strömungen, zu viele Ströme. Ich bin am Ende.«
    An der Stelle, wo der Fluß zum Meer wird, bleibt das Boot langsam stehen. Es braucht Tallows Führung,
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