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Die goldene Barke

Die goldene Barke

Titel: Die goldene Barke
Autoren: Michael Moorcock
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unaufmerksam. Hätte dran denken müssen.«
    Tallow legte den Arbeitsanzug an, der ihm zu groß war. Er konnte ihn jedoch seiner Größe anpassen, indem er Hosenbeine und Ärmel aufrollte. Harold seifte dann Tallows Gesicht ein und rasierte ihn.
    »Und jetzt hinaus zu unserem Frühstück«, sagte er. »Hier entlang, Mr. Tallow. Bitte hier entlang, Sir.«
    Tallow schnaubte durch die Nase und folgte Harold aufs neue durch das Labyrinth scharlachroter Korridore. Im Haus waren die üblichen Morgengeräusche vernehmbar: Klappern und Schreie, Schritte und das Rauschen laufenden Wassers. Schließlich kamen sie in einen großen hellen gelben Raum, in dem an langen Tischen ungefähr fünfzig Männer in weißen Arbeitsanzügen saßen. Sie hatten matte Augen und blickten nicht auf, als Tallow eintrat. Harold zeigte ihm einen Platz am Ende einer der Bänke und eilte fort, um mit einer großen Schüssel Haferbrei zurückzukommen.
    »Essen Sie auf, Sir«, murmelte er. »Essen Sie auf. Das wird Ihnen guttun, Mr. Tallow.«
    Tallow brummte den alten Wärter ärgerlich an, hatte aber Hunger. Er stopfte sich den Brei mit einem Holzlöffel, den man ihm gegeben hatte, in den Mund. Harold gesellte sich zu den etwa fünfzig anderen Wärtern, die an der Wand entlangstanden, und sah glücklich zu, wie Tallow aß. Tallows Mitgefangene befanden sich in der Mitte des Saales. An den Wänden standen ihre Wärter. Die Gefangenen grunzten und aßen wie Tiere. Einige aßen nichts, sondern weinten in ihre Schüsseln. Die ihnen zugeteilten Wärter sahen verletzt und verwirrt aus und schüttelten die Köpfe.
    Tallow verzehrte sein Essen und trank den Becher Milch aus, den ihm Harold geholt hatte. Er wurde gerade rechtzeitig fertig. Ein Pfiff ertönte, die Gefangenen erhoben sich und stießen die Bänke mit den Beinen zurück. Tallow erhob sich ebenfalls und wartete auf den nächsten Schritt. Die Gefangenen waren ein schrecklicher Haufen; die meisten waren unrasiert, mit langem, ungekämmtem Haar und krummen, herabhängenden Schultern. Die Gefangenen begannen auf eine Tür am anderen Ende des Saales zuzuschlurfen. Tallow folgte ihnen. In den letzten Tagen hatte er sich daran gewöhnen müssen, anderen Menschen zu folgen.
    Die Tür führte in den Garten hinaus, den Tallow schon früher gesehen hatte. Die Gefangenen begannen in ihm umherzuschlurfen, die Augen nicht geradeaus, sondern einfach auf den Boden gerichtet. Ihre Wärter blieben drinnen. Tallow hatte das Gefühl, er werde beobachtet, und sah sich um. Auf einem Balkon hinter ihm stand der rundliche Anstaltsleiter. Er winkte Tallow fröhlich zu.
    Tallow machte mit zwei Fingern eine obszöne Geste und drehte dem Leiter den Rücken zu. Er klopfte dem Mann direkt vor ihm auf die Schulter. Der Mann zuckte nervös zusammen und sprang mit beiden Beinen vom Boden hoch. Er drehte sich auf dem Absatz herum und starrte Tallow aus riesigen runden Augen an. Aber eigentlich starrte er nur in Tallows Richtung, blickte anscheinend durch diesen hindurch.
    »Was willste?« fragte der Gefangene mit lebloser, eintöniger Stimme.
    »Mein Freund, ich möchte wissen, warum du hier bist«, sagte Tallow. »Weshalb hat man dich hier eingesperrt?«
    »Das weiß ich nicht«, erwiderte der Mann. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«
    Tallow ließ nicht locker. »Das mußt du wissen«, sagte er. »Das mußt du einfach wissen.«
    »Ich hab’s vergessen«, erklärte der Gefangene verdrießlich.
    »Hör mal«, drang Tallow in ihn, »du mußt dich erinnern. Bist du ein Verrückter? Aussehen tust du so.«
    Der Gefangene kreischte wie eine Krähe. »Nein ! Das bin ich nicht!«
    Verdutzt begann Tallow die Regung zu bedauern, die ihn bewogen hatte, dieses Gespräch anzuknüpfen.
    »Warum bist du dann hier?« sagte er so ruhig wie möglich und hielt dabei Abstand zu dem schwatzenden Wesen. »Weshalb bist du hier?«
    Der Mann beruhigte sich. »Weiß nicht«, sagte er matt. »Ich mochte früher Musik. Die sagten, das ist nicht gut für mich.« Er blinzelte Tallow mit seinen Eulenaugen zu. »Nicht gut für mich«, wiederholte er. »Nicht gut für meine Nachbarn .« Plötzlich wirbelten die anderen Gefangenen herum, als hätten sie nur auf das Bekenntnis des Mannes gewartet, und blickten Tallow an. Dann begannen sie, einer nach dem anderen, im Singsang zu sprechen. Sie blickten Tallow gar nicht an. Sie blickten den Leiter auf dem Balkon an.
    »Ich zog die Frauen den Männern vor, aber ich – so, wie es
steht …«
»Ich erfand ein
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