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Die goldene Barke

Die goldene Barke

Titel: Die goldene Barke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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Der geborstene Schädel, mit Hirn und verklebtem schwarzem Haar bedeckt. Das Stöhnen, mit dem der Alte gestorben war. Der alte gebrechliche nackte Leichnam, dem er die Kleider ausgezogen hatte. In seiner Erinnerung sah er es deutlicher, als ihm beim ersten Anblick bewußt geworden war. Er hatte Harold doch nicht etwa erschlagen?
    Am Kragen des gelben Arbeitsanzuges war irgend etwas unbequem. Er hob einen Finger, um ihn zu lockern, und stieß auf etwas Klebriges. Er ließ die Hand sinken.
    An seinem Zeigefinger war geronnenes Blut und klagte ihn an. Er war plötzlich von Entsetzen gepackt. Er blickte zurück. Die Stadt war nicht mehr zu sehen. Er schaute nach vorn. Er konnte die Barke nicht mehr finden. Er wußte jedoch, daß sie vor ihm war. Sie mußte dort sein – er hatte sie gesehen und wiedererkannt.
    Während er weitersegelte, sah er dennoch einen eingeschlagenen Schädel und schmale, nackte Schultern vor sich. Ein bitterer Geschmack stieg ihm die Kehle hinauf, auch wenn er sein Boot hinter der goldenen Barke und der Wahrheit hersteuerte. Der Nabel! Wo war er?

    Viertes Kapitel

    Z um vierten Mal, seit Tallow seine Verfolgungsjagd
    aufgenommen hatte, wich der Tag zwangsläufig der
            Nacht. Tallow verließ sich auf sein Glück und schlief neben dem Ruder, und am nächsten Morgen erwachte er und fand sich bis auf die Haut durchnäßt, aber immer noch auf Kurs. Der gelbe Arbeitsanzug, den er trug, war nicht auf Wet terfestigkeit gemacht. Tallow hatte nicht gut geschlafen, weil seine Träume scharlachrote Träume gewesen waren, doch jetzt war es Morgen, und er konnte sie vergessen. Was war ein Menschenleben? Was bedeutete schon ein Mord, wenn die goldene Barke gewiß weiterzog?
    Der Regen fiel vom grauen Himmel nieder, tropfte in das Wasser des Flusses und prasselte auf das Segel des Bootes. Und Wind begann zu wehen. Die Flußufer waren nicht mehr von Weiden, sondern von Rhododendren gesäumt. Das niederstürzende Wasser ließ sie schwer werden und in sich zusammensinken. Der Wind frischte auf und verwandelte sie in raschelnde, alptraumhafte Scheusale, die sich obszön reckten und Tallow ans Ufer locken wollten. Er lachte sie aber aus, und der Wind füllte das Segel seines Schiffes, blähte es auf, bis der Mast knarrte. Plötzlich begriff Tallow die Gefahr, er erkannte, daß er keinen Grund zum Lachen hatte, denn der Wind trieb sein Fahrzeug auf die lockenden tierischen Büsche zu. Verzweifelt versuchte er, das Segel in Ordnung zu bringen, aber das Takelwerk war ihm nicht vertraut, und in seinem Schrecken erreichte er nur, daß sich dasselbe vollends verknotete. Der Wind wehte stärker, drückte den Mast tiefer und machte das Segel rund wie einen Kannibalenbauch.
    Tallow zerrte an den Knoten, bis seine Finger bluteten und die Nägel so gebrochen waren, daß sie immer wieder an der Takelage hängenblieben. Als dann der Wind noch stärker wurde, mußte Tallow sich aufs Ruder konzentrieren, um das Schiff irgendwie auf Kurs zu halten. Tallow sah, daß er sich einer Flußbiegung näherte, sah außerdem zwei andere Dinge: ein weißes Aufleuchten vor dem dunklen Grün und die goldene Barke, die dicht vor ihm hoch aufragte. Er hatte sich so eifrig an dem Segel zu schaffen gemacht, daß er sein Ziel nicht bemerkt hatte. Er hoffte flehentlich, lange genug auf Kurs bleiben zu können, damit er die Barke erreichen und besteigen konnte. Doch als sein Boot schnelle Fahrt aufnahm und die Flußbie gung erreichte, stand es plötzlich schlingernd und bebend still. Er war auf eine unsichtbare Sandbank aufgelaufen.
    Tallow sprang wütend in das flache Wasser, schrie seine Enttäuschung Wind und Wetter entgegen und versuchte das Boot von der Sandbank zu schieben, während ihm der Regen ins Gesicht peitschte. Seine Anstrengungen waren sinnlos. Die Barke war in einer Sekunde seinen Augen entschwunden, und er sank im Wasser auf die Knie und brach in ein verzweifeltes Schluchzen aus.
    Der Regen ließ ein wenig nach, und der Wind wehte nicht mehr so heftig, aber Tallow blieb auf den Knien, beugte sich zum wirbelnden, schmutzigen Wasser nieder, die Hände über ihm an die Seite seines Bootes geklammert. Regen und Wind legten sich, und schließlich zerteilte die Sonne die Wolken. Die Sonne beschien das Boot, beschien Tallow, den Fluß, die Büsche und Bäume und ein weißes, fünfstöckiges Haus, das wie das frisch gewaschene Gesicht eines Kindes glänzte.
    Tallow hob die roten Augen und seufzte. Er versuchte noch einmal, das

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