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Die Glasglocke (German Edition)

Die Glasglocke (German Edition)

Titel: Die Glasglocke (German Edition)
Autoren: Sylvia Plath
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meiner Kommode. Ich sprach mit Mrs. Nolan nie über Ich und Es. Eigentlich wußte ich gar nicht, worüber ich mit ihr sprach.
    »… Ich werde von nun an draußen wohnen.«
    Ich kehrte in meinen Gedanken zu Joan zurück. »Wo denn?« fragte ich, bemüht, meinen Neid zu verbergen.
    Mrs. Nolan hatte gesagt, mein College werde mich auf ihre Empfehlung und mit dem Stipendium von Philomena Guinea für das zweite Semester wieder aufnehmen, aber weil die Ärzte nicht wollten, daß ich in den Ferien bei meiner Mutter wohnte, sollte ich bis zum Beginn des Wintersemesters in der Anstalt bleiben.
    Trotzdem fand ich es unfair, daß Joan vor mir draußen sein würde.
    »Wo?« fragte ich noch einmal. »Die lassen dich doch nicht etwa allein irgendwo wohnen?« Joan durfte erst seit dieser Woche wieder in die Stadt.
    »Nein, natürlich nicht. Ich wohne in Cambridge bei Schwester Kennedy. Die Frau, mit der sie zusammenwohnte, hat gerade geheiratet, und nun braucht sie jemanden, der sich die Wohnung mit ihr teilt.«
    »Cheers.« Ich hob mein Apfelsaftglas, und wir stießen an. Joan, so dachte ich, würde mir trotz meiner Vorbehalte immer lieb und teuer bleiben. Es war, als wären wir durch übermächtige äußere Umstände, Krieg oder Pest, zusammengezwungen und lebten nun in einer gemeinsamen Welt. »Wann gehst du fort?«
    »Am ersten.«
    »Schön.«
    Joan wurde nachdenklich. »Du kommst mich doch mal besuchen, Esther?«
    »Selbstverständlich.«
    Aber im stillen dachte ich: »Wohl kaum.«
    »Es tut weh«, sagte ich. »Soll es wehtun?«
    Irwin sagte nichts. Dann sagte er: »Manchmal tut es weh.«
    Ich hatte Irwin auf der Treppe vor der Widener-Bibliothek getroffen. Ich stand auf dem oberen Absatz, betrachtete die roten Backsteingebäude, die den schneebedeckten Hof umgaben, und wollte mich eben auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle machen und in die Anstalt zurückfahren, als ein großgewachsener junger Mann mit einem ziemlich häßlichen, bebrillten, aber intelligenten Gesicht auf mich zukam und sagte: »Könnten Sie mir bitte sagen, wie spät es ist?«
    Ich sah auf meine Uhr. »Fünf nach vier.«
    Der Mann nahm den Bücherstapel, den er bisher wie ein Tablett voller Geschirr vor sich hergetragen hatte, unter einen Arm und enthüllte ein knochiges Handgelenk.
    »Aber Sie haben ja selbst eine Uhr!«
    Der Mann warf einen wehmütigen Blick auf seine Uhr. Hob sie ans Ohr und schüttelt sie. »Sie funktioniert nicht.« Er lächelte einladend. »Wohin gehen Sie gerade?«
    Ich wollte schon sagen: »Zurück in die Anstalt«, aber der Mann sah vielversprechend aus, deshalb überlegte ich es mir anders. »Nach Hause.«
    »Wie wäre es mit einem Kaffee vorher?«
    Ich zögerte. Ich sollte zum Abendessen zurück in der Anstalt sein und wollte mich so kurz vor meiner endgültigen Entlassung nicht verspäten.
    »Ein winziges Täßchen Kaffee?«
    Ich beschloß, meine neue, normale Persönlichkeit an diesem Mann zu erproben, der mir, während ich noch zögerte, schon erzählte, er heiße Irwin und sei ein hochbezahlter Mathematikprofessor, und sagte deshalb »Also gut«, und schlenderte, indem ich meine Schritte denen von Irwin anpaßte, neben ihm die lange, vereiste Treppe hinunter.
    Erst als ich Irwins Arbeitszimmer sah, beschloß ich, ihn zu verführen.
    Irwin lebte in einem dunklen, komfortabel eingerichteten Souterrain in einer der heruntergekommenen Straßen am Stadtrand von Cambridge und nahm mich nach drei Tassen bitteren Kaffee in seinem Wagen dorthin mit – zu einem Bier, wie er sagte. Wir saßen in seinem Arbeitszimmer auf braunen Ledersesseln zwischen Stapeln von staubigen, unbegreiflichen Büchernvoller aufwendiger Formeln, die kunstvoll wie Gedichte auf den Seiten verteilt waren.
    Während ich an meinem ersten Glas Bier nippte – ich mache mir nichts aus kaltem Bier mitten im Winter, aber ich nahm das Glas, weil ich mich daran festhalten konnte –, klingelte es an der Tür.
    Irwin schien verlegen. »Es könnte eine Dame sein.«
    Irwin hatte die altmodische Angewohnheit, Frauen als Damen zu bezeichnen.
    »Na und?« Ich machte eine großzügige Geste. »Lassen Sie sie doch hereinkommen.«
    Irwin schüttelte den Kopf. »Es würde sie nur aufregen.«
    Ich lächelte in meine bernsteinfarbene Walze aus kaltem Bier. Noch einmal ertönte die Klingel – laut und fordernd. Irwin seufzte und erhob sich. Sobald er verschwunden war, schlich ich ins Badezimmer und beobachtete im Schutz der schmuddeligen, aluminiumfarbenen Jalousie, wie Irwins
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