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Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin

Titel: Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
Autoren: Mindy L. Klasky
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benachbarte Fenster strömten. Stolz erfüllte Ranis schmale Brust und ließ sie sich hoch aufrichten.
    Sie hätte vor ihren Nachbarn prahlen oder zumindest das Gildewappen an ihrem Umhang ein wenig auffälliger präsentieren können, wenn nicht in diesem Moment der Einzug der Prozession des Verteidigers begonnen hätte. Trompeten erklangen, als drohe eine Schlacht, und angespanntes Schweigen befiel die Menge. Die Fanfare erklang ein Mal, dann noch zwei Mal und dann zwei weitere Male – insgesamt fünf Mal, entsprechend den Unberührbaren und den vier Kasten, denen Jair angehört hatte. Mit jeder Wiederholung sanken mehr Gläubige auf die Knie – zuerst die wenigen Unberührbaren, denen als Diener von Adligen Einlass in die Kathedrale gewährt worden war, dann in rascher Folge die vereinzelten Händler (Rani hätte fast ihren neuen Status vergessen und wäre mit auf die Knie gesunken), gefolgt von den Gildemitgliedern (Rani dachte dankbar an ihren neuen Status), den Soldaten und schließlich den Adligen.
    Der Trompetenklang wich einem choralen Wechselgesang von Kindern, die sich in den Fenstergeschossen der Seitenschiffe hoch über den Gläubigen befanden. Jene hellen Stimmen klangen wie die Glocken an den Toren zu den Himmlischen Gefilden, und Rani erschauderte angesichts der unerwarteten Schönheit. Während die sanften Töne von der Decke der Kathedrale widerhallten, schritt Prinz Tuvashanoran durch den Gang.
    Jeder der königlichen Schritte wurde vom ehrfürchtigen und bewundernden Staunen der Menge begleitet. Am Rande des südlichen Querschiffs gefangen, war Rani versucht, sich zum Hauptschiff vorzudrängen, aber sie widerstand dem Drang, wohl wissend, dass sie ungehinderte Sicht auf den azurblauen Lichtteich und die Initiation selbst hätte.
    Und sie wurde nicht enttäuscht.
    Prinz Tuvashanoran war gewiss der beliebteste Adlige in der Geschichte der Stadt. Er sah nicht nur atemberaubend gut aus, sondern galt auch als die reine Blüte des Rittertums. Er hatte beim Frühjahrsturnier mühelos die goldenen Sporen erworben, wobei er seine Gegner mit Mitgefühl und Respekt behandelte. Verschiedene Prinzessinnen aus wohlhabenden, legendären Ländern im Norden und Osten wurden regelmäßig bei Hofe präsentiert, und der Prinz unterhielt sie alle – sang mit seiner vollen Baritonstimme, spielte auf seiner Laute und führte im Haupthof des Schlosses seine Reitkünste vor. Aber er war mehr als ein Hofmann.
    Im letzten Frühjahr, als das Tauwetter spät einsetzte und der nasse Schnee einem Mann noch immer bis über die Brust reichte, waren Wölfe die Hügel außerhalb der Stadt herabgekommen. In einer feuchten, nebligen Nacht entdeckte Prinz Tuvashanoran die Pilgerglocke. Sie war trotz der offensichtlichen Gefahr für die Reisenden, die durch die neblige Landschaft: zogen, unbemannt. Anstatt nach Dienstboten zu schicken und wertvolle Zeit zu verlieren, trat der Prinz selbst zur Glocke und ließ das schwere Metall mit solch ruhiger Exaktheit durch die Nacht klingen, dass kein einziger Bewohner der Stadt merkte, dass etwas nicht in Ordnung war. Fünf Pilger trafen während dieser nebeldurchwogten Nacht in der Stadt ein, von denen einer Geschichten darüber zu erzählen wusste, wie er nur knapp einer riesigen Bestie entkommen war, einem Wolf aus der Unterwelt.
    Prinz Tuvashanoran führte an jenem Tage eine Jagdgesellschaft an, obwohl er die ganze vorherige Nacht nicht geschlafen hatte. Er hetzte die Bestie zu Tode und präsentierte dem Hohepriester den gewaltigen Pelz, damit das warme Fell an die Bedürftigen unter den Unberührbaren verteilt werden konnte.
    Nun schritt dieser legendäre Tuvashanoran das Hauptschiff entlang, während sein goldenes Stirnband den Glanz des von den Fenstern gefärbten Lichts einfing. Jeder Schritt war ein Ballett der Anmut, jede Wendung seines Kopfes war eine Symphonie der Vertrauenswürdigkeit.
    Als Tuvashanoran den Altar erreichte, kniete er nieder und beugte sein königliches Haupt vor dem unglaublich alten Hohepriester. Das Gesicht des alten Mannes war unter einer hohen, edelsteinbesetzten Mitra verborgen, sein vom Alter gebeugter Körper durch einen bauschigen Chormantel gestützt. Der Hohepriester blickte seinen geistigen Sohn strahlend an und hob dann die zitternden, von Leberflecken übersäten Hände über Tuvashanorans rabenschwarzes Haar.
    Während der Wechselgesang der Kinder seinen musikalischen Höhepunkt erreichte, beugte der Prinz in vollkommener Ergebenheit vor den Tausend
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