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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Autoren: Lion Feucht Wanger
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ursprünglich Kunstgeschichte studiert; besessen von seinem Studium, hatte er davon geträumt, sich als Dozent zu habilitieren. Dann schmolz sein Geld weg, er hungerte erbärmlich; als er nichts mehr besaß außer einem fadenscheinigen Anzug, ramponierten Schuhen und dem Manuskript einer ungewöhnlich gründlichen Studie über den Maler Theotokopulos, genannt El Greco, hatte Gustav Oppermann ihn aufgegabelt. Um ihn zu beschäftigen, hatte Gustav im Möbelhaus Oppermann eine Kunstabteilung eingerichtet und ihn zum Chef dieser Abteilung gemacht. Gustav, in seinem draufgängerischen Optimismus, hatte anfangs davon geträumt, auf dem Umweg über Klaus Frischlin durch das Möbelhaus Oppermann moderne Gegenstände zu propagieren, Stahlmöbel, Bauhausmöbel und dergleichen. Doch er hatte bald, halb amüsiert, halb erbittert, sehen müssen, wie die Kunstabteilung vor den Bedürfnissen der robusten Oppermannschen Kleinbürgerkundschaft die Waffen streckte. Noch immer versuchte Klaus Frischlin zäh, listig und vergeblich seinen eigenen empfindlichen Geschmack durch manche Hintertür einzuschmuggeln. Gustav beobachtete das erheitert und mit Rührung. Er mochte den beharrlichen Menschen gern, holte ihn oft als Privatsekretär und wissenschaftlichen Mitarbeiter heran.
    Auch für diesen Mittwoch wie für jeden hatte Gustav Frischlin hergebeten. Eigentlich wollte er an der Lessing-Biographie arbeiten. Aber berief er nicht das neidische Schicksal, wenn er sich gerade heute damit befaßte? Er unterließ es also und ging statt dessen daran, das eigene Leben ein bißchen chronologisch zu sichten. War ihm nicht erst heute morgen aufgefallen, wie schwer er sich in der Historie des eigenen Lebens zurechtfand? Hier ein wenig Ordnung zu machen, dazu ist der fünfzigste Geburtstag der rechte Tag.
    Gustav kannte sich gut aus in der Biographie vieler Männerdes achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts. Hatte Übung darin, zu erkennen, welche Erlebnisse für diese Männer entscheidend gewesen waren. Merkwürdig, wie schwer es ihm nun fiel, zu entscheiden, was für sein eigenes Schicksal wichtig war, was nicht. Dabei hat er doch viel Erregendes erlebt, eigenes Schicksal und Schicksal aller, Krieg und Revolution. Aber was wirklich hat ihn verändert? Mit Unbehagen sah er, wieviel von ihm abgeglitten war. Die Sichtung machte ihn nervös.
    Jählings brach er ab. Lächelte. »Bitte, nehmen sie eine Postkarte, lieber Frischlin«, sagte er, »ich will Ihnen diktieren.« Er diktierte: »Geehrter Herr. Merken Sie sich für den Rest Ihres Lebens: ›Es ist uns aufgetragen, am Werke zu arbeiten, aber es ist uns nicht gegeben, es zu vollenden.‹ Ihr aufrichtig ergebener Gustav Oppermann.« – »Ein schöner Satz«, meinte Klaus Frischlin. »Nicht wahr«, sagte Gustav. »Er ist aus dem Talmud.« – »An wen geht die Karte?« fragte Frischlin. Gustav Oppermann lächelte jungenhaft, spitzbübisch. »Schreiben Sie«, sagte er. »An Dr. Gustav Oppermann, Berlin-Dahlem, Max-Reger-Straße 8.«
    Abgesehen vom Diktat dieser Postkarte, blieb es ein unfruchtbarer Vormittag, und Gustav war froh, als er eine plausible Ursache fand, die Arbeit abzubrechen. Diese Ursache kam in angenehmer Gestalt, in der seiner Freundin Sybil Rauch. Ja, Sybil Rauch fuhr an in ihrem kleinen, komischen, abgetakelten Wagen. Sie hatte es ein bißchen wichtig wie immer. Gustav kam ihr unters Haustor entgegen. Unbekümmert um die Gegenwart des Dieners Schlüter, der öffnen wollte, hob sie sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn mit ihren kühlen Lippen auf die Stirn. Das war nicht ganz einfach; denn unter den Arm gepreßt trug sie ein großes Paket, ihr Geburtstagsgeschenk.
    Dieses Geschenk entpuppte sich als eine altertümliche Uhr. Über dem Uhrblatt hatte sie ein bewegtes Auge, ein sogenanntes »Auge Gottes«, ein Auge, das mit der Sekunde von rechts nach links ging, immer wandernd. Gustav hatte seitlangem daran gedacht, eine solche Uhr in seinem Arbeitszimmer aufzustellen, eine Art ständiger Mahnung, die den etwas Regellosen zu geordneter Arbeit auffordern sollte. Aber es war schwer gewesen, ein Gehäuse zu finden, das sich dem Raume einfügte.
    Er freute sich, daß Sybil das Rechte aufgetrieben hatte. Er dankte ihr lärmend, herzlich, liebenswürdig. Im Grund ist er ein wenig enttäuscht. Dieses wandernde Auge, das ihn beaufsichtigen sollte, war es nicht Kritik, wenn sie ihm das in seinen Raum stellte? Er läßt es nicht so weit kommen, daß dieses Abwehrgefühl Gedanke wird.
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