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Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Autoren: Norbert F. Pötzl
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auch ihres Aussehens wegen als Exoten galten?
    Meier : Sicher; germanische Leibwachen haben geradezu eine Tradition in der Antike. Schon im klassischen Athen gab es die skythischen Polis-Sklaven, eine Art Polizeitruppe, die von der Stadt angestellt war. Noch in Byzanz stellten Wikinger die Warägergarde.
    SPIEGEL: Das sind aber Sonderfälle. Wann begann die eigentliche Integration von Germanen ins Römische Reich?
    Meier : Vom 3. Jahrhundert an wird das Zusammenleben immer intensiver. Bis in die höchsten Kreise trifft man von nun an Germanen an. Ein berühmter Fall ist um 400 der Heerführer und »Regent« Stilicho, ein Halbvandale als Römer.
    SPIEGEL: Um diese Zeit hat nach geläufigen Geschichtsbüchern schon die Völkerwanderung begonnen, an der Germanen erheblichen Anteil haben. Warum beginnen Völker oder besser Stämme zu wandern?
    Meier : Üblicherweise lautet die Antwort: weil von Osten die Hunnen herandrängen und wie im Dominoeffekt alle anderen einander ausweichen.
    SPIEGEL: Ein plausibles Szenario?
    Meier : Heutige Historiker finden, die Dominosteine kippen etwas zu rasch, und seltsamerweise fällt bis ins 5. Jahrhundert kein einziger historisch sicherer Hunnen-Name in der Überlieferung. Aber Druck muss es gegeben haben, so großen Druck, dass Germanen auf römisches Gebiet drängten. Versorgungsprobleme, Korruption und anderes führten dann bald zu Konflikten.
    SPIEGEL: Und so verdrängt ein Stamm den anderen?
    Meier : Das auf eine Karte zu zeichnen ist eigentlich irreführend, auch die Pfeile zwischen altem und neuem Wohnsitz. Da zogen doch kaum je ganze Verbände mit Mann und Maus geschlossen durch Europa.
    SPIEGEL: Also gibt es letztlich gar keine Völkerwanderung?
    Meier : Wissenschaftlich könnte man auf den Namen verzichten: Der Volksbegriff des 19. Jahrhunderts taugt für die Germanen nichts, und wer wie und warum wandert, ist ein sehr komplexes Problem, das sich in jedem Einzelfall anders gestaltet. Dennoch hat noch niemand das Wort durch etwas Plausibleres ersetzt.
    SPIEGEL: Da bewegten sich also mal einzelne Menschen oder Familien, dann Kriegergruppen bis hin zu ganzen Stämmen?
    Meier : Jeder Fall ist wieder anders. Wer waren zum Beispiel die Leute, an deren Spitze Alarich um 400 steht? Wohl doch eher ein Heeresverband, vielleicht mit gewissem Anhang. Die Großgruppe, die 429 Afrika erreicht, Vandalen und Alanen, scheint dagegen sehr bunt gemischt gewesen zu sein, darunter eher weniger Krieger. Die Hunnen sind ein reiner Reitertrupp. Und bei den Goten auf dem Balkan erkennt man rivalisierende Kriegergruppen, manchmal mit Anhang; sogar Fremde, etwa Rugier, sind dabei.
    SPIEGEL: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?
    Meier : An Wagentrecks, wie wir sie aus unseren Western kennen, sollten wir jedenfalls lieber nicht mehr denken.
    SPIEGEL: Auch nicht an Kolonisierung?
    Meier : Wenn schon, muss man fragen, wie die vonstattenging – vermutlich auch nach keinem einheitlichen Muster.
    SPIEGEL: Immerhin lösen Reiche, die von Germanen, oft nur einer Minderheit, gelenkt werden, im Westen allmählich die römische Herrschaft ab …
    Meier : … solange Ostrom mitmacht. Es gibt viele schöne Geschichten, um Nachfolge zu legitimieren, etwa bei Odoaker oder seinem Nachfolger Theoderich. Aber letztlich lässt Byzanz die neuen Barbarenregenten nur gewähren, solange es drängendere Probleme hat. Bei nächster Gelegenheit, unter Justinian, kommt dann 535 die Intervention in Italien.
    SPIEGEL: Nur gut drei Jahrzehnte bleiben, bis die Langobarden Norditalien erobern. Wieder mal Gunst der Stunde?
    Meier : Ja, weil Byzanz dort nicht so viele Soldaten in Bereitschaft halten konnte und auch nicht so gern zweifelhafte fränkische Hilfstruppen einsetzen wollte.
    SPIEGEL: Ein Germanenstamm übernimmt – Ironie der Geschichte – das Erbe des weströmischen Reiches.
    Meier : Tut er das?
    SPIEGEL: Nicht de jure, zugegeben.
    Meier : Als legitimer Nachfolger Roms im Westen etabliert sich erst Karl der Große …
    SPIEGEL: … ein Franke, der angeblich sogar alte Heldenlieder hat sammeln lassen. Tritt da nicht doch ein Germane als weltgeschichtlicher Erbe des Imperiums auf?
    Meier : Wie viel »Germanisches« steckt in Karl dem Großen? Schon in der Spätantike konnten manche Leute nach Bedarf Identitäten wechseln. Wer hier Überdauerndes festklopfen will, trägt zum Verständnis der Sache nichts bei. Menschen sind in diesen frühen Zeiten weit weniger durch Herkunft oder gar Nation geprägt, als man das heute
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