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Die Geliebte des Gelatiere

Die Geliebte des Gelatiere

Titel: Die Geliebte des Gelatiere
Autoren: Daniel Zahno
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Gesuati-Kirche strömten die Kirchgänger. Eine Nachbarin schaute aus dem Piano nobile des Palazzo Trevisan degli Ulivi und beobachtete mich. Bevor mich jemand ansprechen konnte, schlüpfte ich in meinen Eingang und verschwand.
    In der Wohnung legte ich erst einmal alles ab und atmete tief durch. Dann warf ich mich auf das Bett und starrte an die Decke. Von draußen schwappten die Geräusche des Canale della Giudecca herein und überfluteten die Stille des Zimmers mit Getucker und Schiffssirenen. Das Gieren der Plattformen war zu hören, und auf einer Baustelle schrammte etwas metallisch gegen etwas anderes. Ich lauschte den Geräuschen und dachte an Noemi. Was auch immer ich dachte, meine Gedanken führten nirgendwohin. Schließlich erinnerte ich mich an das rote Haarband in meinem Schreibtisch, das Einzige, was mir von ihr geblieben war. Ich fragte mich, ob es dieses Band wirklich gab, aber als ich aufstand und zuhinterst in der Schublade wühlte, lag es da neben einem Bild meiner Großmutter und einer alten Agenda. Ich starrte es lange an, sah einen kleinen dunklen Fleck darauf. Nie hatte ich diesen Fleck bemerkt. Vorsichtig nahm ich das Band zur Hand und strich mit der anderen sachte darüber. Ich drückte das Gesicht in das Gewebe, atmete durch Mund und Nase ein und hoffte, eine Spur von Noemis feinem Vanilleduft zu erhaschen. Aber der Geruch schien sich verflüchtigt zu haben. Erst nach einer Weile, als ich es schon aufgegeben hatte, nahm ich ganz schwach einen fernen Hauch von ihrem Haar wahr.
    Morgen, dachte ich, morgen.
    Dann schlief ich ein.
    Aber der Morgen veränderte nichts. Ich verlor den Boden unter den Füßen. Taumelte durch den Tag. Schmerz und Trauer nahmen noch zu. Den Plan, nach meiner Rückkehr wieder in der Gelateria zu arbeiten, gab ich vorerst auf. Für eine Weile überließ ich das Geschäft Antonio. Er hatte die Sache während meiner Abwesenheit gut gemacht, er würde sie auch weiterhin gut machen.
    Ziellos streifte ich durch die Gassen Cannaregios, ich wusste nicht, wohin, kam immer wieder an Ecken, wo Noemi und ich durchgegangen waren, wo wir gestanden hatten. Da hatten wir geplaudert, dort waren wir mit dem Vaporetto gefahren. Ich machte mich auf zu den Fondamente Nuove und lehnte mich an den Poller, bei dem wir oft gesessen hatten. Ich verschränkte die Arme und schaute hinaus auf die Lagune, zu den Fischerbooten, die, um nicht ins Seichte zu geraten, der Doppelreihe von Holzpfählen folgten, die die Wasserstraße hinüber zur Friedhofsinsel säumten. Fora dal mondo …
    Wenn ich irgendwo Vanille roch, hatte ich Noemi vor Augen. Und ich roch es überall: im Eis, im Tee, in der Marmelade, in Brioches, Joghurts, Cremes, in Parfums, Shampoos, im Waschmittel, in Kerzen. Ich roch es zu Hause, in Cafés, auf Märkten, in Kirchen.
    Ich verkroch mich, verlor mich in Tagträumen, hoffte wie ein kleines Kind, Noemi würde jeden Augenblick auftauchen und mit einem Limoneneis vor mir stehen. Würde diese Leichtigkeit und Vertrautheit mit sich bringen, die alles zum Leuchten brachte.
    Aber nichts dergleichen geschah. Ich war ausgelaugt, nur noch eine Hülse. Wogen von Übelkeit überkamen mich, als müsste ich mich selbst auskotzen. Schweißausbrüche wechselten mit Schwächeanfällen. Nach einem halben Jahr hatte ich genug davon. Ich entschloss mich, wieder in meiner Gelateria zu arbeiten. Ich versuchte, mich am Kaufen von schwarzbraunen Vanillestangen festzuhalten, am Aufschlitzen der Schoten, am Herauskratzen der Samen. Versuchte, mich an einfachen Handgriffen und Verrichtungen zu stützen: am Mischen, Rühren und Abwägen, am Schmecken, Probieren und Einfüllen.
    Gleichwohl erschien mir meine Gelateria jetzt schal. Es war kein Ort der Lustbarkeit mehr, kein Ort des fantasievollen Genusses, der sinnlichen Verführung, sondern eine normale Eisdiele – kommerziell, oberflächlich und dumm, ein Ort, an dem man Einheimischen und Touristen für eine süße Kleinigkeit das Geld aus der Tasche zog. Das Ganze widerte mich an, ich fühlte mich abscheulich und schwor mir, nie mehr an einem Wettbewerb wie der »Coppa d’Oro« teilzunehmen. Wie lächerlich und läppisch das war, wie kleinkariert und eitel.
    Und doch hielt ich mich an der richtigen Menge Luft, an der richtigen Qualität der Schoten fest – es war das Einzige, was mich noch trug, das Einzige, was ich noch aushielt. Den Rest der Welt hatte ich völlig aus dem Blick verloren.
    Wann immer ich Vanille roch, erinnerte ich mich an Noemis Art zu
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