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Die Geliebte des Gelatiere

Die Geliebte des Gelatiere

Titel: Die Geliebte des Gelatiere
Autoren: Daniel Zahno
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Drehkreuz kam, durch das man die Anlage verlassen musste. Die Frau blieb stecken, schaffte es weder vor noch zurück und rief verzweifelt um Hilfe. Ihre Rufe wurden immer hysterischer, die Situation war peinlich und bedrohlich. Zugleich machte sich bei den Leuten, welche die Lände nicht verlassen konnten, Spott und Unmut breit. Wir mussten lachen, aber ich fühlte auch Mitleid mit der eingeklemmten Frau, die sich im Drehkreuz verkeilt hatte. Schließlich fand sich für uns ein Weg um das Drehkreuz herum, die Schlange löste sich auf, und wir ließen die von einem Helfer betreute, aber untröstliche Frau in ihrem seltsamen Gefängnis zurück.
    Im Hotel machten wir uns frisch und gingen zum Abendessen in ein kanadisches Restaurant auf der anderen Seite der Fälle. Nach einem saftigen Rindersteak mit Gemüse und Pommes frites kam die Dessertkarte, und da erzählte ich Noemi, dass die Ärzte mir geraten hatten, kein Eis mehr zu essen. Sie schaute mich mit großen Augen an.
    »Warum denn das?«
    »Wegen Lactose-Unverträglichkeit.«
    »Lactose-Unverträglichkeit? Vielleicht solltest du es trotzdem versuchen. Falls sich die Ärzte täuschen – und sie täuschen sich oft –, dann bringst du dich um einiges.«
    »Na, ich weiß nicht.«
    »Alvise, was machst du ohne deine Gelateria? Wenn du kein Eis mehr essen kannst, kannst du deinen Laden dichtmachen. Nach allem, was du mir erzählt hast, kann ich mir das nicht vorstellen. In deinem Leben dreht sich doch alles ums Eis, nicht wahr?«
    »Da hast du recht. Aber die Schmerzen, die ich hatte, möchte ich nicht wieder bekommen.«
    »Was könnte denn im schlimmsten Fall passieren, wenn du einen Bananensplit isst?«
    »Keine Ahnung. Durchfall. Bauchkrämpfe. Übelkeit. Womöglich lande ich wieder im Spital.«
    »Na, dann will ich dich nicht drängen. Obwohl ich glaube, dass dir ein Becher Eis ganz gut tun würde. Ohne Eis fühlst du dich doch nur wie eine halbe Portion.«
    Damit lag sie nicht falsch. Doch die Schrecken meines Infekts waren noch frisch. Und ich wollte nichts riskieren, jetzt, da ich Noemi wiedergefunden hatte. Trotzdem war ich hin- und hergerissen, und als die Kellnerin an den Tisch kam, um die Bestellungen aufzunehmen, entschied ich mich nicht für einen Schokoladenkuchen, sondern für ein Vanilleeis.
    »Ein Vanilleeis?«, fragte Noemi mit einem verschmitzten Lächeln.
    »Zur Feier des Tages. Wenn es schiefgeht, wirst du mich betreuen müssen.«
    »Wird schon schiefgehen«, sagte sie und bestellte eine große Portion Limoneneis.
    Das Eis kam. Ich betrachtete es mit Skepsis. Zweifel stiegen in mir auf, ob ich nicht einen Fehler beging. Aber als ich sah, wie Noemi strahlte, verschwanden meine Zweifel, ich griff zum Löffel und ließ mir das Eis langsam und genüsslich auf der Zunge zergehen. Ich schloss die Augen. Es war köstlich. Etwas mehr Luft war in diesem amerikanischen Eis, die Struktur anders, aber trotzdem war es köstlich. Seit Monaten hatte ich diesem Moment entgegengefiebert, befürchtet, es würde nie mehr so weit kommen. Und jetzt das: Ich saß mit Noemi an einem Tisch, hatte sie nach Jahren der Trennung wiedergefunden und auch die Freude am Eis zurückgewonnen – gab es ein größeres Glück?
    Während ich mein Vanilleeis leckte, beobachtete ich jede von Noemis Bewegungen – sie wartete eine Weile, ließ das Gelato stehen, bis es sein ganzes Aroma entfalten konnte, und begann erst, als es schon zu verlaufen drohte, behutsam daran zu löffeln. Lustvoll leckte sie an dem Limoneneis, das mit Zitronensaft, Cointreau und einem Schuss Prosecco abgeschmeckt worden war. Mit größtem Zartgefühl behandelte sie die Portionen auf ihrem Löffel, als wären es auserlesene Köstlichkeiten.
    Seit jener Zeit, als ich in meinem Bett am Rio della Misericordia lag und sie die Waffeln brachte, hatte sich nicht viel verändert. Noch immer bewunderte ich, wie sie sich so ganz dem Eis hingeben konnte. Wie sie völlig darin aufging. Es gab nichts Schöneres, als ihr beim Eisessen zuzuschauen. Als sie den letzten Rest aus der Schale gelöffelt hatte, wischte sie sich mit der Serviette den Mund ab. Schließlich wandte sie sich wieder mir zu und lächelte mich an. Es war nicht bloß eine Schleckerei, der ich beigewohnt hatte.
    »Gar nicht so schlecht, dieses amerikanische Eis«, sagte ich.
    »Schmilzt herrlich auf der Zunge.«
    »Es sieht anders aus, schmeckt anders, hat eine andere Konsistenz. Ich könnte mir vorstellen, auch mal solches Eis zu machen. Es ist luftiger und
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