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Die Geliebte des Gelatiere

Die Geliebte des Gelatiere

Titel: Die Geliebte des Gelatiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Zahno
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wiederzusehen?«
    Nachdenklich starrte ich aus dem Fenster.
    »Ich weiß nicht. Ich wollte nichts kaputt machen. Ich wollte die schönen Erinnerungen nicht zerstören. Vielleicht wäre es besser, nicht an den alten Sachen zu rühren und alles ruhen zu lassen.«
    Gedankenverloren blickte ich auf ihre Hände.
    »Ich glaube«, sagte ich, »ich wollte dich nicht enttäuschen. Und auch nicht enttäuscht werden.«
    Noemi schaute mich kopfschüttelnd an.
    »Ich hätte mir das Wiedersehen anders gewünscht, ohne diesen Unfall. Alles wegen Homer, das Ganze war mir furchtbar peinlich. Und doch kam mir dein Gesicht gleich bekannt vor, auch wenn ich es nicht einordnen konnte. Als ich die Sandwiches machte, überlegte ich die ganze Zeit, woher ich dich kannte, aber ich kam zu keinem Schluss. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Zwanzig Jahre?«
    Sie machte eine kurze Pause.
    »Aber im Grunde hast du dich kaum verändert. Du bist immer noch der Alvise, den ich einmal sehr gern gehabt habe.«
    Ich war ein wenig verlegen, versuchte zu lächeln, aber es gelang mir nicht.
    »Weißt du, auch ich habe oft an dich gedacht. Es ist nicht einfach für mich gewesen, hierher nach Amerika zu kommen und bei null zu beginnen. Am Anfang war ich oft einsam. Ich sehnte mich nach Venedig zurück. Ich sehnte mich nach jemandem, der mich versteht, so wie du mich verstanden hast. Wenn es mir schlecht ging, dachte ich immer an dich.«
    Noemi schaute mich ernst an.
    »Aber warum hast du mir nie geschrieben? Ich dachte, du hättest in Amerika neue Freunde gefunden und interessierst dich nicht mehr für mich.«
    Sie seufzte.
    »Ich habe mir lange überlegt, ob ich dir schreiben soll. Ich habe immer wieder Briefe aufgesetzt und sie nicht abgeschickt. Hätte ich sie abgeschickt, dann wären auch Briefe von dir gekommen, und das hätte ich nicht ertragen. Eine Rückkehr nach Venedig schlossen meine Eltern kategorisch aus. Das kam für sie nicht in Frage. Wären jedoch keine Briefe von dir gekommen, hätte ich es auch nicht ertragen. Dann hätte ich gedacht, dass du dich rächst, mich strafst, mir auf stille Weise eine Abfuhr erteilst. Ich wollte nicht verletzt werden, und eine Zurückweisung schien mir umso wahrscheinlicher, da ich dich vor den Kopf gestoßen hatte. Ich habe versucht, dich zu vergessen.«
    Sie biss sich auf die Lippe.
    »Und, ist es dir gelungen?«
    Sie zuckte mit den Achseln und lächelte mich an.
    Ich schaute auf ihre Hände, die mit dem Niagara-Buch spielten.
    »Ich hätte dir bestimmt geantwortet, hättest du mir geschrieben. Wir wären befreundet geblieben, und ich wäre vielleicht mal nach Amerika gekommen. Das hätte alles verändert. Wer weiß, womöglich hätte unser Leben eine ganz andere Wendung genommen.«
    »Das ist gut möglich. Aber die Dinge laufen halt nicht immer so, wie man es sich vorstellt.«
    »Aber du bist doch glücklich, oder?«
    »Glücklich?«
    Sie kniff die Augen zusammen.
    »Ich weiß nicht …«
    Einen Augenblick lang war es still. Man hörte nur das rasselnde Schnarchen des Dicken vor uns, der in Schenectady zugestiegen war und gleich zwei Sitze in Beschlag genommen hatte. »Oh God, I am not made for these damned seats!«, hatte er gestöhnt, als er sich auf den Zweiersitz gezwängt hatte.
    »Und wie steht’s mit dir? Bist du glücklich? Abgesehen von den paar Schrammen siehst du blendend aus.«
    »Findest du? Ich habe den Eindruck, ich werde immer schwieriger, mein Körper immer anfälliger. Ich mag mich gerade nicht sonderlich.«
    »Aber du hast eine gute Ausstrahlung. Du gefällst mir noch besser als früher.«
    Ich schaute sie verlegen an.
    »Na, mit dir kann ich nicht konkurrieren. Aber es freut mich, dass du das so siehst.«
    Man hörte das Pfeifen der Lokomotive. Der Dicke vor uns wachte auf und hievte sich hoch, um in den Speisewagen zu gehen. Langsam näherten wir uns Buffalo.
    »Was das Glück betrifft, hatte ich nicht immer Glück. Ich bin zwar ganz zufrieden mit meiner Gelateria, bin stolz auf den Erfolg, den ich habe. Die Leute kommen gerne dahin. Aber sonst ist einiges schiefgelaufen. Manchmal denke ich, dass damals, als wir bei mir im Zimmer saßen und Eis leckten, die glücklichsten Momente meines Lebens waren.«
    Kaum hatte ich das gesagt, hörte man einen gewaltigen Knall, dann noch einen und noch einen, irgendetwas krachte gegen die Fensterscheibe. Als ich hinausschaute, sah ich eine Gang von Jugendlichen, die Steine gegen den im Schritttempo fahrenden Zug warfen. Ihre Gesichter waren

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