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Die Geliebte des Gelatiere

Die Geliebte des Gelatiere

Titel: Die Geliebte des Gelatiere
Autoren: Daniel Zahno
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bei mir blieb, führte mich ins Hotel auf mein Zimmer und wies mich an, mich hinzulegen und auszuruhen. Der Mann harrte unten in der Lobby aus. Ich duschte, legte mich aufs Bett und wartete auf Meldungen. Apathisch lag ich da und starrte zur Decke.
    Immer wieder stellte ich mir vor, wie ich Noemi hielt, als die Welle kam, mich mit ihr an den Pfosten klammerte und sie mit Wasser in Augen, Mund und Ohren in Sicherheit brachte. Immer wieder hielt ich sie fest und rettete sie. Aber so war es nicht gewesen. Ich konnte nur auf ein Wunder hoffen, dass alles doch noch gut herauskam – Noemi war eine gute Schwimmerin, vielleicht fand man sie weiter unten am Ufer, erschöpft, aber lebend. Hatten nicht eine Reihe von »Daredevils« den Sturz über die Fälle in Fässern und anderen Behältern überlebt?
    Mir blieb nur, zu warten und zu hoffen. Doch ich wusste nicht, ob ich das aushalten würde, ob ich das nur zehn Minuten lang aushalten würde, eingesperrt in diesem muffigen Zimmer. Gestern noch hatten wir uns im Zimmer nebenan die ganze Nacht geliebt, zum ersten Mal geliebt. Staub wirbelte durch die Luft, machte mir bei jedem Atemzug zu schaffen. Ich hustete, hatte Mühe zu atmen, glaubte zu ersticken. Immer wieder schaute ich auf die Uhr, zählte die Minuten, hoffte auf den erlösenden Anruf. Es musste etwas geschehen. Doch Minute um Minute verging. Immer nur Stille. Stille.
    Unter meinen Lidern zuckte es. Überall an meinem Körper begann es zu zucken, in den Beinen, den Armen. Der Schmerz krümmte mich, drückte mich zusammen. Ich wand mich auf dem Bett hin und her, biss ins Laken.
    Die Schimmelaugen an der Decke starrten mich an, sie grinsten. Aber vielleicht tauchte Noemi doch noch auf? Vielleicht war sie auf eine untere Plattform gespült worden und hatte sich dort festgeklammert? Einen Augenblick lang war ich mir sicher, dass es so war. Bilder stiegen in mir auf, wie ich sie in die Arme schloss, sie hielt und drückte. Wie ich sie küsste. Ihren Vanilleduft einsog und mich daran berauschte.
    22
    Ein paar Tage später war ich wieder in Venedig. Mit der Linea Alilaguna ging es vom Flughafen Marco Polo Richtung Fondamente Nuove. Ich sah die Türme und Dächer der Stadt näherrücken, aber eigentlich hatte ich nur die tote Noemi vor Augen. In einer Bucht unweit des Whirlpool war ihr Körper angeschwemmt und aus dem Niagara gefischt worden – vom Wasser und von Gasen auf eine Weise aufgebläht, dass sie fast nicht mehr zu erkennen war. Ihre wunderbare Gestalt war kaum mehr menschlich, eine unförmige Masse, aufgedunsen, aufgeschwemmt, Haare und Nägel weggerissen. Ihre Lippen waren dunkel und geschwollen, und zwischen diesen Lippen ragte eine schwarze Zunge heraus. Die Augen hatten ihr magisches Grün verloren, waren verwaschen, lidlos, ohne Iris. Die Brüste hatte der Strudel beinahe platzen lassen. Die Waden waren zerquetscht. Die Haut abgeschält, als hätte man Noemi skalpiert. Die Lederhaut, die darunter zum Vorschein kam, war rotbraun, durchzogen von Sehnen und geborstenen Blutgefäßen. Ein Gestank ging von dem toten Körper aus wie von giftiger Säure. Ich war fast zusammengesackt, aber ich hatte mich nicht abgewandt. Ich hatte meine Hand auf ihre Stirn gelegt.
    Im Toilettenspiegel des Schnellbootes sah ich in meine Augen, und was ich sah, waren Augen eines Incurabile: geschwollene, blutunterlaufene Augen, in die ich kaum zu blicken wagte. Erschöpft taumelte ich auf dem Schiff herum und hatte größte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Bei den Fondamente Nuove wollte ich auf die Linie Richtung Zattere wechseln, verpasste aber den Ausstieg. Das Schnellboot brauste an der Stelle vorbei, wo Noemi und ich immer gesessen hatten, um Eis zu lecken und den Blick in die Ferne schweifen zu lassen. Schwindel setzte mir zu, ich schwankte und hielt mich an der Brüstung fest. Leer starrte ich auf das Wasser, das unter mir vorbeizog, und verlor mich in den Wellen.
    Die Alilaguna fuhr zum Lido, dann über das Arsenale und San Zaccaria nach San Marco. Dort wechselte ich mit einer Touristengruppe auf das Vaporetto Richtung Zattere. Rund um mich herum standen Leute mit Reisetaschen, begierig, alles in sich aufzusaugen, was sie zu sehen bekamen. Die farbigen Taschen, die hohen Absätze, die baumelnden Kamerariemen versetzten mir einen Stich.
    Am Zattere-Quai stieg ich aus und machte mich auf zu meiner Dachkammer. Auf dem Campo Sant’Agnese spielten Kinder Fußball, eine alte Badewanne lag gegen einen Baum gelehnt, und aus der
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