Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Geisha - Memoirs of a Geisha

Titel: Die Geisha - Memoirs of a Geisha
Autoren: Arthur Golden
Vom Netzwerk:
ertönte an der Haustür eine Stimme.
    »Oi! Aufmachen! Hier ist Dr. Miura!«
    Dr. Miura kam einmal pro Woche in unser Fischerdorf, und seit der Erkrankung unserer Mutter hatte er es sich angewöhnt, den Hügel heraufzukommen, um nach ihr zu sehen. Mein Vater war an jenem Tag zu Hause, weil sich ein furchtbares Gewitter zusammenbraute. Er saß an seinem gewohnten Platz am Tisch und hatte seine großen, spinnenartigen Hände tief in einem Fischernetz vergraben. Jetzt hielt er einen Augenblick inne, um mich anzusehen und einen Finger zu heben. Das bedeutete, daß ich die Tür öffnen sollte.
    Dr. Miura war ein äußerst wichtiger Mann – jedenfalls glaubten wir das in unserem Dorf. Er hatte in Tokyo studiert, und man erzählte sich, daß er mehr chinesische Schriftzeichen kannte als jeder andere. Er war viel zu stolz, um von einem Geschöpf wie mir Notiz zu nehmen. Als ich die Tür öffnete, schlüpfte er aus seinen Schuhen und ging wortlos an mir vorbei ins Haus.
    »Also wirklich, Sakamoto-san«, sagte er zu meinem Vater, »ich wünschte, ich hätte es so gut wie Sie, den ganzen Tag draußen auf dem Meer beim Fischen! Wie wundervoll! Und bei schlechtem Wetter ruhen Sie sich dann aus. Wie ich sehe, schläft Ihre Frau immer noch«, fuhr er fort. »Wie schade. Ich dachte, ich könnte sie untersuchen.«
    »Ach?« sagte mein Vater.
    »Ich kann nächste Woche nicht kommen. Würden Sie sie vielleicht für mich wecken?«
    Es dauerte eine Weile, bis mein Vater seine Hände aus dem Netz befreit hatte, aber schließlich erhob er sich doch noch vom Tisch.
    »Chiyo-chan«, wandte er sich an mich, »bring dem Doktor eine Tasse Tee.«
    Damals hieß ich Chiyo. Meinen Geisha-Namen Sayuri bekam ich erst viele Jahre später.
    Mein Vater ging mit dem Arzt ins andere Zimmer, wo meine Mutter schlief. Ich versuchte an der Tür zu lauschen, hörte jedoch nur meine Mutter stöhnen und nichts von dem, was gesagt wurde. Ich brühte den Tee auf, und bald darauf kam der Doktor zurück. Er rieb sich die Hände und machte ein sehr ernstes Gesicht. Er und mein Vater setzten sich an den Tisch.
    »Es wird Zeit, daß ich mit Ihnen spreche, Sakamoto-san«, begann Dr. Miura. »Sie müssen unbedingt mit einer der Frauen im Dorf reden, vielleicht mit Frau Sugi. Bitten Sie sie, für Ihre Frau ein schönes neues Nachthemd zu nähen.«
    »Dazu fehlt mir das Geld, Doktor«, sagte mein Vater.
    »Wir sind in letzter Zeit alle ärmer geworden. Ich verstehe, was Sie sagen wollen. Aber Sie sind es Ihrer Frau schuldig. Sie sollte nicht in dem zerrissenen Hemd sterben, das sie jetzt trägt.«
    »Dann wird sie also bald sterben?«
    »Sie hat vielleicht noch ein paar Wochen. Sie leidet furchtbare Schmerzen. Der Tod wird eine Erlösung für sie sein.«
    Von da an konnte ich nichts mehr hören, denn ich hatte ein Geräusch wie von den Flügeln eines in panischer Angst flatternden Vogels in den Ohren. Vielleicht war das ja mein Herz. Ich weiß es nicht. Aber wenn Sie jemals einen Vogel beobachtet haben, der in der großen Halle eines Tempels gefangen ist und den Weg nach draußen sucht – na ja, so ähnlich reagierte damals mein Verstand. Es war mir nie in den Sinn gekommen, daß meine Mutter nicht einfach weiterhin krank sein würde. Ich will nicht sagen, daß ich mich niemals gefragt habe, was wohl geschähe, wenn sie starb – das habe ich mich des öfteren gefragt, genau wie ich mich gefragt habe, was wohl geschähe, wenn unser Haus von einem Erdbeben verschluckt würde, und es kam auch das gleiche heraus: Nach einem solchen Ereignis konnte es kein Weiterleben geben.
    »Ich dachte, ich würde zuerst sterben«, sagte mein Vater.
    »Sie sind ein alter Mann, Sakamoto-san, aber bei guter Gesundheit. Sie haben möglicherweise noch vier oder fünf Jahre. Ich werde Ihnen noch ein paar von den Pillen für Ihre Frau dalassen. Falls nötig, können Sie ihr jeweils zwei davon geben.«
    Eine Weile unterhielten sie sich noch über die Pillen, dann verabschiedete sich Dr. Miura. Mein Vater saß noch lange schweigend da, mit dem Rücken zu mir. Er trug kein Hemd, nur seine schlaff herabhängende Haut. Je länger ich ihn betrachtete, desto stärker kam er mir vor wie eine seltsame Sammlung von Formen und Strukturen. Seine Wirbelsäule war ein Pfad aus Buckeln. Sein Kopf mit den bräunlich verfärbten Flecken hätte eine angeschlagene Frucht sein können. Seine Arme waren in altes Leder gewickelte Stecken, die von zwei Buckeln herabhingen. Wenn meine Mutter starb – wie konnte ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher