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Die Gebeine von Avalon

Die Gebeine von Avalon

Titel: Die Gebeine von Avalon
Autoren: Phil Rickman
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zuerst, es handle sich um die Totgeburt irgendeiner Nonne. Als er dann –»
    «Werfen sie die üblicherweise nicht bloß in Lumpen gewickelt in den Fluss?»
    «– als er dann aber endlich den Mut fand, den Deckel abzuheben, kam er sofort zu mir zurück und ließ mich wecken.»
    Ich schaute mich um: zwei Konstabler, ein Mann der Wache, ein paar Huren und ein Vagant nahe der Einmündung der Gasse. Am Eingang einer billigen Kaschemme an der Ecke flackerte die sterbende Flamme einer Pechfackel, die Fensterläden der anderen Häuser jedoch waren alle fest verschlossen, und aus ihren Schornsteinen drang kein Rauch. Wahrscheinlich Speicher oder Lagerhallen.
    «Hat Euer Mann es genau hier entdeckt?»
    «Nein, nein, das grässliche Ding befand sich weithin sichtbar unten am Kai. Ich ließ es hierher bringen und schickte dann die Wache aus, an ein paar Türen in der Gegend zu klopfen. Ein Mann, der einen Sarg auf der Straße spazieren trägt, müsste ja eigentlich jemandem aufgefallen sein.»
    Ich nickte. Vielleicht irgendeinem Betrunkenen, der jetzt um seinen Verstand fürchtete. Ich legte die Wachsfigur zurück in den Holzkasten und hob ihn an. Er war recht leicht – Kiefer vielleicht, unter dem pechschwarzen Anstrich.
    «Und dann habt Ihr
mich
holen lassen», sagte ich. «Dürfte ich mich … erkundigen, was Euch dazu bewog?»
    Die Frage zündete nicht, stattdessen antwortete Walsingham mit einer Gegenfrage.
    «Dr. Dee, da wir beide wissen, wer hiermit dargestellt wird, erklärt mir doch bitte, wie soll dieser Zauber wirken?»
    Ich löste, was ich jetzt als hölzerne Krone erkannte, aus dem geflochtenen Strohhaar und hielt es hoch. Nicht sonderlich fein geschnitzt, aber wenn man es mit etwas Abstand betrachtete …
    «Und falls das Ding wirklich aus einer Altarkerze geformt wurde», fuhr Walsingham fort, «würde das dann die, nun, die Wirkung verstärken?»
    «Master Walsingham, bevor wir diese Unterhaltung fortführen –»
    Walsingham hob die Hand, stand auf, bedeutete den Konstablern und Bediensteten mit einem Wink, sich ein wenig zu entfernen, und ging zu einem Hauseingang gegenüber der Tränke. Ich richtete mich auf und folgte ihm. Er lehnte sich gegen den modernden Türrahmen, von dem bereits die Farbe abblätterte. Ein Mann, der von Dunkelheit und Verfall angezogen wurde.
    Und der offensichtlich das Gleiche von mir dachte.
    «Soweit ich weiß, geltet Ihr als unser größter Gelehrter für, nun, nennen wir es einmal Dinge, die
nicht von dieser Welt
sind.»
    Plötzliches Möwengekreisch über dem Fluss. Walsingham wartete, das knochige Gesicht mit ernstem Ausdruck, die Augen tief in den Höhlen. Jetzt war ich auf der Hut. In welchen Belangen ich der jungen Königin diente, war kein Geheimnis – ein Dienst, der mir ebendeshalb mehr Gefahr brachte als Gewinn; jeder, dem gestattet wurde, hinter dunkle Vorhänge zu spähen, setzte sich dadurch dem Verdacht des Pöbels aus.
    Doch was sollte ich entgegnen? Ich zuckte mit den Schultern und gestand akademisches Interesse. Allerdings ohne viele Worte zu machen, denn er hatte mir noch immer nicht erklärt, was eine Wachspuppe im Sarg eines Säuglings mit den Aufgaben eines Parlamentsmitglieds zu tun haben mochte.
    «Mir scheint, Dr. Dee, wenn wir nach der Herkunft dieser Figur forschen, kommen zwei Möglichkeiten in Betracht.»
    Wir?
    «Zunächst eine Finte der Papisten, die Ängste in der Bevölkerung schüren soll. Daher auch diese öffentliche Zurschaustellung.» Er sah hinüber zu den Konstablern. «Schaut Euch nur die Gesichter an. Die fürchten schon um ihr Seelenheil, wenn sie sich nur in der Nähe dieses Dings befinden.»
    «Ihr hingegen nicht?»
    Inzwischen glaubte ich mich doch deutlich zu erinnern, dass die Walsinghams streng reformierte Protestanten waren, mit einer Verbindung zu den Boleyns und wahrscheinlich einer tiefen Abneigung gegen jegliche Art von Heiligenkult. Daher hatte er wohl zuvor auch Straßenmädchen so verächtlich als
Nonnen
bezeichnet.
    «Und die zweite Möglichkeit», fuhr er fort, «weist natürlich auf den Leibhaftigen höchstselbst hin.»
     
    †
     
    Diese Fragen der Mitternacht, ich widme mich ihnen täglich. Und doch mit Vorsicht.
    Wisset: Einige von uns werden mit Fähigkeiten geboren, wie die Engel sie besitzen. Sie können die Toten wandeln sehen oder die Gedanken der Menschen lesen. Und einige haben die Gabe, die natürliche Ordnung der Dinge zu ändern.
    Um all dies weiß ich, und dennoch, falls Ihr glaubt, ich spräche
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