Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen
Autoren: Paul Harding
Vom Netzwerk:
strähniges weißes Haar, ein im Tode
eingefallenes Gesicht, die skelettdürren Finger einer alten
Frau. Cranston sah ihn an und zuckte die Achseln.
    »Sie ist tot,
Bruder«, meinte er. »Was können wir da tun?«
Athelstan machte das Zeichen des Kreuzes in die Luft und betete,
auf daß Christus, wo immer er sein möge, die Seele der
alten Frau aufnehme.
    Sie gingen weiter,
vorbei am Standard- und am Conduit-Gefängnis mit den offenen
Käfigen, wo Kurtisanen und Kupplerinnen, die am Abend ertappt
worden waren, einen Tag lang stehen und sich von
vorübergehenden Bürgern mit Dreck bewerfen und
beschimpfen lassen mußten. Cranston hatte eine Frage
gestellt, und Athelstan wollte eben antworten, als ihn der Gestank
von den Geflügelständen plötzlich würgen
ließ: der scheußliche Dunst von altem Fleisch,
verfaulenden Innereien und getrocknetem Blut. Athelstan ließ
Cranston weiterschwatzen und hielt den Atem an und den Kopf
gesenkt, als es an Sealding Alley vorbeiging, wo ausgeweidetes
Federwild gesäubert und in großen Holzbottichen mit
kochendheißem Wasser gewaschen wurde. Vor der Schänke
>Zur Rose<, am Eingang eines engen Gäßchens,
mußten sie anhalten, um einen Gefängniskonstabler
vorbeizulassen, der eine Schar von Verbrechern führte, die in
der vergangenen Nacht festgenommen worden waren; sie hatten die
Hände auf den Rücken gebunden und Stricke um den Hals.
Die Unglückseligen waren auf dem Weg ins Gefängnis von
Poultry; die meisten waren immer noch in betrunkenem Halbschlaf
nach ihren nächtlichen Abenteuern. Sie rutschten aus und
rempelten einander um. Ein junger Mann brüllte, die Konstabler
hätten ihm die Stiefel weggenommen, und seine Füße
seien schon voller Schnitte und Wunden. Athelstan hatte
Mitleid.
    »Im
Gefängnis ist es so heiß«, murmelte er vor sich
hin, »daß es sie bis zur Vesper entweder aus ihrem
Rausch aufwecken oder umbringen wird.«
    Cranston zuckte die
Achseln und schob sich durch das Gedränge wie ein
großes, bauchiges Schiff. Sie wanderten weiter, vorbei an Old
Jewry zur Mercery, wo das Gedränge in den Straßen immer
dichter wurde. Die Frauen gingen dort sehr vorsichtig; ihre
Rocksäume schleiften im Schlamm, und ihre Hände lagen auf
den Armen von Gecken mit hohen Hüten, Taftmänteln, bunten
engen Hosen und schmutzigen Spitzenhemden. Der Boden wurde immer
weicher, denn die Abflußrinne in der Mitte der Straße
war übergeflossen; sie war bis zum Randvoll mit dem Unrat, den
die Anwohner hineingekippt hatten, als sie die Nachttöpfe aus
ihren Kammern
ausleerten.       
    Die Straße wurde
schmaler, als sie die Soper Lane hinter sich gelassen hatten.
Wuchtige, mehrstöckige Häuser rückten zusammen.
Hunde kläfften und jagten aufgeregt hinter den Katzen her, die
in den Abfallbergen vor jeder Haustür stöberten. Die
Menschenmenge wurde farbenfroher; das Blau, Gold, Gelb und
Scharlachrot der Reichen stach scharf ab von den braunen Kitteln,
grauen Hemden und schwarzen, schmierigen Hüten der Bauern,
die, ihre kleinen Wägelchen hinter sich herziehend, von Markt
zu Markt wanderten. Der Lärm schwoll zu schallendem
Getöse an. Lehrjungen brüllten und schrien durcheinander
auf der Suche nach Kundschaft. Schänken und Suppenküchen
waren geöffnet, und der Duft von dunklem Ale, frischem Brot
und würzigen Speisen lockte. Cranston blieb stehen, und
Athelstan stöhnte leise auf.
    »Ach, Sir
John«, sagte er flehentlich. »Noch keine Erfrischung so
früh am Tage! Ihr wißt doch, wie es ausgeht. Wenn Ihr
einmal drinnen seid, kann nur der Teufel Euch wieder
herausbringen.«
    Athelstan seufzte
erleichtert, als der Coroner bedauernd den Kopf schüttelte,
und sie gingen weiter. Ein Trupp von Leuten des Sheriffs erschien;
sie hatten ihre Amtsringe angelegt und trugen lange weiße
Rohrstöcke, mit denen sie sich den Weg durch die Menge
bahnten. In ihrer Mitte führten sie einen Mann in Wams und
Hose aus schwarzem Leder. Seine Hände waren gefesselt, und die
Enden des Seils waren um die Handgelenke zweier seiner Bewacher
geknotet. Das Wams des Gefangenen war aufgerissen und
entblößte ein zerfetztes Hemd. Sein unrasiertes Gesicht
war voller Blutergüsse. »Zauberer!« wisperte
jemand. »Hexenmeister!« Ein Lehrjunge hob
Händevoll Schlamm auf und warf damit; gleich fuhren die
weißen Rohrstöcke auf seine Schultern nieder.
    »Platz da!
Platz!«
    Cranston und Athelstan
gingen weiter, vorbei an den Prangern, an denen schon zahlreiche
Missetäter saßen: ein Hausierer, ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher