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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen
Autoren: Ralf Isau
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definiert hat, das alleinige Recht, die Ursachen und Wirkungen im Universum zu erklären? Dürfen Forscher das Machbare auch machen? Oder sollten sie sich in Selbstbeschränkung üben? Haben sie das Recht und die Pflicht, sich in die Anwendung ihrer Ergebnisse einzumischen?
    Noch auf einem anderen Gebiet sorgte die wochenlange Medienpräsenz der Wissenschaftspublizistin Alex Daniels für ein Aufhorchen. Mit einem Mal interessierten sich die Menschen brennend für die Intersexualität. Als Alex drei oder vier Tage nach Theos Tod endlich ihre aufgestauten E-Mails durchforstete, stach ihr sofort eine Betreffzeile ins Auge.
     
    BITTE UM MITARBEIT BEI SACHBUCH ÜBER HERMAPHRODITEN
     
    Die Nachricht stammte von einer »Kollegin«, wie Yeremi Silbermann sich selbst bezeichnete. Sie sei Wissenschaftsjournalistin und gelernte Anthropologin. Zuerst war Alex skeptisch. Oft genug hatte sie erlebt, dass Ihresgleichen nur als Kuriositäten der Natur wahrgenommen wurden, als Auflagen steigernde Monster. Aber diese Yeremi schien es ehrlich zu meinen. Sie interessierte sich weniger für die körperlichen Abweichungen vom sexuellen Durchschnitt als vielmehr für die psychischen Aspekte. Sie wolle einen Beitrag zu einer neuen Sichtweise im Hinblick auf Hermaphroditen leisten.
    »Bitte betrachten Sie mein Ansinnen nicht als Voyeurismus«, schrieb die Journalistin mit dem deutschen Familiennamen in perfektem Englisch. »Ich bin selbst mit einem Mann verheiratet, der in mancher Hinsicht von der Norm abweicht, und kann nachfühlen, wenn Sie skeptisch sind. Mir geht es wirklich darum, den Kreis des Schweigens zu durchbrechen. Leider ist es mir momentan kaum möglich, Sie in London zu besuchen. Ich bin gerade Mutter geworden, und mein kleiner Sohn hält mich ziemlich in Atem. Wenn Sie an einer Mitarbeit interessiert sind, besuchen Sie mich doch einfach für ein paar Tage in meinem Landhaus auf der Insel Gavrinis. Sie liegt im Golf von Morbihan, in der Bretagne. Für Unterkunft ist gesorgt, und die Reisekosten übernehme natürlich ich. Überlegen Sie es sich.«
    Ein Buch über Hermaphroditen? Warum eigentlich nicht, dachte Alex. Den Kreis des Schweigens durchbrechen. Diese Frau Silbermann schien die Empathie, das nötige Einfühlungsvermögen, zu besitzen, um so ein Tabuthema anzupacken. Und ein paar Tage raues Atlantikklima konnten auch nicht schaden, um die grauen Zellen mal richtig durchzulüften. Du willst ja ohnehin durch Europa touren.
    Alex’ Reisepläne standen in Zusammenhang mit einer aufregenden Namensliste, die ihr der Lordkanzler nach dem Ableben ihres Klonbruders zugespielt hatte.
    Überdies war sie in den Vorzug gekommen, als eine der Ersten das von Theo erwähnte Tagebuch zu lesen. Man hatte es in seiner Hinterlassenschaft gefunden. Es beantwortete ihr einige Fragen, zu denen sich ihr Bruder selbst nicht mehr äußern konnte. Vor allem ging aus seinen sehr persönlichen Aufzeichnungen hervor, was für ein verzweifelter Mensch er gewesen war. Das Hin- und Hergestoßensein zwischen den Geschlechtern hatte ihn zuerst verbittert und letztlich in eine Manie getrieben, die bekanntermaßen für ihn, seinen DNA-Spender Cadwell und einige seiner Geschwister tödlich endete.
    Ohne die abartigen Präparate seines Adoptivvaters hätte Theo vielleicht eines Tages gelernt, mit seinem künstlich bestimmten Geschlecht umzugehen. So aber wurde er immer wieder an sein vermeintliches Versagen erinnert. Er scheiterte an der Bändigung des »Monsters«, das er zu sein glaubte. Dafür hasste er sich, hielt sich für eine wandelnde Lüge. Und er hasste alle, die wie er »Verrat an ihrer Natur« begangen hatten. Diese und nur diese Hermaphroditen tötete er – nicht für Martin Cadwell, der ihn dazu hatte anstiften wollen, sondern aus eigenen Beweggründen. Die anderen verewigte er unter die Sehenden in seiner Familiengalerie.
    Zum irrationalen Element von Theo Kendishs verstümmelter Psyche gehörte bestimmt auch seine Anklage gegen alle, die er für sein Schicksal mitverantwortlich machte: die Forscher von HUGE. Er hasste sie ausnahmslos.
    Einige Zeit nachdem Theos genetischer Vater – der ehemalige Dr. Thorgrim Gunnarsson – zu ihm Kontakt aufgenommen hatte, machte Julian Kendish jene Erbschaft, die ihm zum Verhängnis werden sollte. Schon seit einigen Jahren musste in Theo ein diabolischer Plan gereift sein, jetzt sah er seine Stunde gekommen. Er ermordete seinen ohnehin vom Tode gezeichneten Adoptivvater durch eine Überdosis Insulin,
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