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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi
Autoren: Maurizio de Giovanni
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stehen sie bei mir, um den Ochsen, den Esel, die Heiligen Drei Könige entstehen zu sehen. Den ein oder anderen male ich ihnen an, manche Hirten passen nicht aufs Papier: Cicci Bacco, Vicienzo und Pascale, Stefania und der Mönch. Und die Fischer natürlich. Sie sollen auch die Fischer in der Krippe sehen. Sie sollen glauben, dass auch Onkel, Tanten und Freunde darin vorkommen. Ihr Vater. Alle sollen in der Krippe sein. Alle haben ein Recht darauf.
    Die Kinder standen bei mir, sie sahen mir beim Schnitzen zu. Nicht weit von uns schlug das Meer gegen die Mauern des Kastells – wie ein Tier, das versucht, eine Tür mit dem Kopf einzustoßen. Das Kastell schützt das Viertel, so war es schon immer. Der Ort versteckt sich dahinter.
    Als der Junge ankam, hat er vom kleinen Platz aus gerufen. Wir sind aus den Häusern gerannt. Alle hatten darauf gewartet, mit den Booten rauszufahren. Noch eine Nacht mit hohem Seegang, noch eine Nacht da draußen, um essen zu können, die Frauen, die ängstlich warten und beten, dass die Männer es schaffen und zurückkommen.
    Der Junge kam völlig atemlos hier an. Wir sind herbeigerannt und haben ihn gefragt, was passiert ist. Der Junge hat einen Schluck Wasser getrunken und von dem Blutbad erzählt. Hat erzählt von den Messerstichen, der Polizei und dem Doktor, erzählt, was er hinter einer Mauer hat sagen hören, Worte, die der eiskalte Wind ihm zugetragen hat.
    Wir haben zugehört. Dieser Name hatte uns einst das Fürchten gelehrt. Etliche Male hatten wir den Mann herkommen sehen und ihm ebenso oft den Tod gewünscht. Nun war er tot.
    Als der Junge zu Ende gesprochen hatte, sind alle nach Hause gegangen. Ich nicht. Ich bin zur Mole gegangen, wo unsere Boote
liegen und darauf warten, dass die brausende See sich beruhigt. Ich bin bis zum Meer gegangen. Ich hatte noch das Messer in der Hand, mit dem ich dabei war, die Krippe zu schnitzen, den Ochsen, den Esel, Cicci Bacco.
    Ich hab' mich auf einen Poller gesetzt, die Gischt im Gesicht, den Wind in den Ohren.
    Ich sah meine Hand an, die noch das Messer hielt.
    Und fing an zu lachen. Ich lachte und lachte und konnte nicht mehr aufhören.
    Bis mir die Tränen kamen.

VII
    Ricciardi zog sich in sein Zimmer zurück. Nebenan lief Orchestermusik im Radio: die klagenden Töne eines Tangos, der Einsamkeit und Eifersucht beschwor. Aus der Küche drang gedämpft das Klappern des Geschirrs vom Abendessen, das Rosa im Spülbecken wusch.
    Er ging zum Fenster; die altbekannte Beklemmung und Unruhe machte sich in ihm breit. Dort angekommen, öffnete er die Augen – ihm war nicht bewusst gewesen, sie geschlossen zu haben – und schaute. Nichts. Die Fensterläden im zweiten Stock des Hauses gegenüber, jenseits der engen Gasse, die nach Materdei führte, waren verschlossen. Durch die Spalten fiel das Licht aus der Küche der Familie Colombo. Hin und wieder sah man einen Schatten vorbeigehen: Er kannte diese Bewegungen, sie hatten sich monatelang vor ihm wiederholt, waren seine allabendliche Vorstellung gewesen, das einzige Zugeständnis an die Normalität für jemanden, der wusste, nichts Normales an sich zu haben.
    Warum hast du die Fensterläden geschlossen?, fragte er zum
hundertsten Mal. So stand er da, die Arme vor der Brust verschränkt, mit funkelnden grünen Augen, und suchte nach einer Antwort, die er nicht finden konnte.
    Enrica fehlte ihm. Obwohl er nie mit ihr gesprochen hatte, außer während eines unbeholfenen, linkischen Verhörs im letzten Frühling, obwohl er ihr nie in die Augen geschaut hatte, abgesehen von ein paar flüchtigen, unglücklichen Anlässen, war er in Gedanken immer bei ihr gewesen, bis auf ein einziges Mal vor zwei Monaten, als er sich von der Einsamkeit hatte erdrücken lassen.
    Ihm fehlte die unauffällige, ein wenig zu hochgewachsene junge Frau mit ihren langen altmodischen Röcken und der runden Hornbrille, die gezielten, ruhigen Bewegungen ihrer linken Hand, wenn sie abends im Licht eines Lampenschirms stickte – nur für ihn, der sie im Dunkeln beobachtete.
    Ihm fehlte es, in der Ruhe ihrer Bewegungen, wenn sie das Abendessen für die Eltern und Geschwister zubereitete, wenn sie las oder Geschirr spülte, Musik hörte oder Nachhilfestunden gab, Linderung für all das Blut und Leiden zu finden, das ihn von jeder Straßenecke anfiel, für den Schmerz, der sein grausiges Lied für ihn alleine sang.
    Er konnte sich nicht erklären, warum sie auch noch den schmalen Spalt geschlossen hatte, der es ihm erlaubte, ihr
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