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Die fünfte Kirche

Die fünfte Kirche

Titel: Die fünfte Kirche
Autoren: Phil Rickman
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sie vermutlich gerade, oder?»
    «Reicht das Geld in unserem Gesundheitssystem inzwischen nicht mal mehr, um jemanden dafür zu bezahlen?»
    Cullen sah einen verlassenen Teewagen mitten im Flur stehen und machte ein missbilligendes Geräusch.
    «Also?», sagte Merrily.
    Cullen schob den Teewagen ordentlich an die Wand.
    «Also», sagte sie, «Merrily, es ist so: Seit sie vor drei Tagen reingekommen ist, hat er alles für sie selbst gemacht. Er wollte niemand anderen an sie heranlassen, wenn er da war, und er war fast die ganze Zeit da. Er hat nach einer Schüssel und einem Waschlappen gefragt und sie gewaschen. Sehr zärtlich. Würdevoll, könnte man sagen.»
    «Das habe ich gesehen.»
    «Und dann hat er sich selbst gewaschen: sein Gesicht, seine Hände. Mit demselben Wasser. Es war unheimlich rührend. Er hat auch darauf bestanden, zu versuchen, sie zu füttern, als wir noch dachten, sie würde essen. Und er hat vom selben Löffel gegessen, um sie zu ermutigen, so wie man es mit Babys macht.»
    «Wann ist sie gestorben?»
    «Vor einer halben Stunde, ungefähr. Sie war eindeutig zu jung für einen Schlaganfall, es ist logisch, dass er damit nicht klarkommt. Bei seinem Alter war er bestimmt überzeugt, dass sie ihn lange überleben würde. Aber da hast du es: Er war überbesorgt, besitzergreifend. Und jetzt kann er wahrscheinlich nicht akzeptieren, dass sie wirklich tot ist.»
    «Ich weiß nicht. Es sah   … fast aus wie ein Ritual, wie eine religiöse Handlung. Oder habe ich mir das eingebildet?» Merrily durchwühlte unwillkürlich ihre Tasche nach Zigaretten, bevor ihr wieder einfiel, wo sie sich befand. «Eileen, was hast du vor?»
    Cullen verschränkte die Arme. «Na ja, was das Praktische betrifft   …»
    «Und nur darum geht es dir natürlich.»
    «Natürlich. Was das Praktische betrifft, ist ja wohl klar, dass wir das Bett brauchen. Sie muss also bald runter in die Leichenhalle, und das heißt, dass du den Mann dazu bringen musst, da rauszukommen. Er würde die ganze Nacht bei ihr bleiben, wenn wir ihn ließen. Letzte Nacht hat er in seinen Mantel gewickelt neben ihrem Bett auf dem Fußboden geschlafen.»
    «Gott.» Merrily drückte die Hände tief in die Taschen von Janes Dufflecoat. «So geliebt zu werden.» Sie war selbst nicht ganz sicher, was sie damit meinte.
    Cullen rümpfte die Nase. «Also, gehst du rein und sprichst mit ihm? Murmelst ein oder zwei kleine Gebete? Verabreichst ihm eine Dosis christliches Mitgefühl? Und bringst ihn dann – mit dem Taktgefühl und der Menschlichkeit, für die du berühmt bist und für die wir hier keine Zeit haben – verdammt nochmal da raus?»
    «Ich weiß nicht. Wenn es ihm hilft, mit seinem Kummer zurechtzukommen   …»
    «Willst du kneifen? Na gut, kein Problem.»
    Merrily stellte ihre Tasche auf den Teewagen. «Pass auf meine Sachen auf.»
     
    Sie wusste nicht allzu viel über Leichenstarre, aber sie ahnte, dass es bald nicht mehr so leicht sein würde, zu tun, was getan werden musste.
    «Wir sollten ihr die Augen schließen», sagte Merrily, «meinen Sie nicht?»
    Sie streckte zögernd die Hand in Richtung von Mrs.   Weal aus, Daumen und Zeigefinger gespreizt. Bisher hatte sie das nur gleich nach dem Eintritt des Todes gemacht, wenn die Seele noch, leicht wie Rauch, im Raum zu schweben schien. Aber was wäre, oh Gott, wenn ihre Augenlider schon starr waren?
    «Lassen Sie sie in Ruhe», sagte Mr.   Weal langsam.
    Merrily bewegte sich nicht. Er stand so steif da wie ein Soldat. Ein sehr großer Mann, alles an ihm war groß. Sein Gesicht war breit, er hatte eine römische Nase und großflächige Wangen, die von roten Äderchen durchzogen waren – das Gesicht eines Bauern. Sein volles, ergrauendes Haar war streng nach hinten gestrichen.
    Ohne sie anzusehen, sagte er: «Aus welchem Grund sind Sie hier, Madam?»
    «Ich heiße Merrily.» Sie ließ ihre Hand sinken. «Ich bin   … Pfarrerin in Ledwardine.»
    «Und?»
    «Ich wollte nur   … ich war zufällig im Haus, und die Stationsschwester hat mich gebeten hereinzuschauen. Sie dachte, dass Sie vielleicht gerne jemanden hätten, um zu   … reden?»
    Das war wahrscheinlich das Dümmste, was sie sagen konnte. Wenn es je einen Mann gegeben hatte, der nicht reden wollte, dann war er es. Zwischen ihnen blickten die Augen seiner Frau ins Nichts, nicht mal ins Jenseits. Sie waren milchig überzogen, farblos geworden wie das Wasser in der Metallschüssel auf dem Nachttisch. Er breitete das Bettzeug wieder über
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