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Die Frucht des Bösen

Die Frucht des Bösen

Titel: Die Frucht des Bösen
Autoren: Lisa Gardner
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standhalten, wenn eine fünfzehn Kilo schwere Bettkonsole in Griffweite ist.
    Lucy war ein Wolfskind, das heißt, sie war über lange Zeit aufs Schlimmste misshandelt worden und auf dem Entwicklungsstand eines Säuglings stehengeblieben. Sie war nicht imstande, sich selbständig anzuziehen, geschweige denn mit Besteck umzugehen. Sie sprach nicht und hatte nie gelernt, aufs Töpfchen zu gehen. Laut Krankenakte hatte sie die meiste Zeit ihres Lebens in einer ausgeschalteten Tiefkühltruhe verbracht, in der Einschusslöcher für ein Mindestmaß an Ventilation sorgten. Was sie außerhalb der Tiefkühltruhe hatte erleiden müssen, war noch schlimmer gewesen, als darin eingesperrt zu sein. Das Ergebnis war ein neunjähriges Mädchen, das sich wie ein wildes Tier gebärdete. Und wenn wir nicht gehörig aufpassten, waren wir gezwungen, sie wie ein solches zu behandeln.
    Kaum eine Stunde nach ihrer Aufnahme entleerte sie sich in ihre Hand und aß ihren Kot. Zwanzig Minuten später beobachtete sie ein Milieu Counselor ( MC ) – so nennen wir unsere Sozialarbeiter – dabei, wie sie die Füllung aus ihrem Kissen herausriss und sich in verschiedene Körperöffnungen stopfte. Das Kissen wurde ihr abgenommen, aber gegen das Herausholen des Zeugs, das sie in sich hineingesteckt hatte, sträubte sie sich mit Händen und Füßen. Wiederum eine Stunde später zerkratzte sie sich mit den Fingernägeln ihre Arme und beschmierte die Wand mit Blut.
    Schnell wurde klar, dass jede Form von Aufmerksamkeit sie veranlasste, sich selbst zu verletzen. Wenn sie Publikum hatte, musste sie sich wehtun.
    Am Nachmittag gegen vier sperrten wir Lucy in ihrem Zimmer ein und verabredeten ihre Überwachung. Statt wie in vergleichbaren Fällen sonst üblich nur alle fünf Minuten nach dem Rechten zu sehen, wurde ein Stationsmitglied damit betraut, sie, wenn auch diskret, permanent im Auge zu behalten und alle zwanzig Minuten über ihren Zustand eine Notiz zu machen.
    An diesem Abend war ich die Glückliche.
    Gegen elf waren endlich alle Kinder zur Ruhe gekommen. Einige, die Angst vor der Dunkelheit hatten, schliefen auf Matratzen im hell erleuchteten Flur. Andere konnten nur bei völliger Dunkelheit schlafen, und wiederum andere brauchten Musik oder Hintergrundgeräusche. Ein Kind verlangte das Ticken einer Uhr, das den Herzschlag seiner verlorenen Mutter simulierte. Wir versuchten, all diesen Kindern gerecht zu werden.
    Während Lucys erster Nacht auf unserer Station saß ich mit dem Rücken zu ihrer Tür und las den Kindern im Flur Geschichten vor. Von Zeit zu Zeit warf ich einen Blick auf die verspiegelte Halbkugel, die über mir unter der Decke hing. Überall auf der Station waren an strategisch günstigen Stellen solche Rundspiegel angebracht, um die Kinder in den Zimmern und auf dem Flur beaufsichtigen zu können.
    Es schien, als würde Lucy den vorgelesenen Geschichten lauschen. Sie lag in sich zusammengerollt am Boden und winkte mit der Hand wie eine Katze, die die Bewegung ihrer Pfote studierte. Je schneller ich las, desto schneller bewegte sich die Hand. Wenn ich langsamer wurde, reagierte sie entsprechend.
    Zwanzig Minuten später war sie vom Boden verschwunden. Im verzerrten Spiegelbild entdeckte ich schließlich einen ihrer Füße unter der Matratze hervorlugen. Weil sie sich nicht bewegte, drehte ich mich um und schaute in ihr Zimmer. Sie hatte sich unter die Matratze gelegt und schlief. Manchmal zuckte der Fuß, und es schien, dass sie träumte.
    Ich setzte mich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Außer mir hatten sechs weitere Kollegen Dienst. Viele nutzten die Nachtschicht, um Papierkram zu erledigen. Tagsüber blieb dafür meist keine Zeit.
    Nachts stellten sich alte Schrecken und neue Ängste ein, eine unbewusste Palette aus all den schrecklichen Dingen, die unsere Kinder erfahren hatten. Manche wachten auf und fingen zu weinen an, andere schreckten schreiend aus dem Schlaf. Und es gab auch welche, die aggressiv wurden. Dann mussten die anderen, die in der Nähe waren, sich entweder wehren oder abhauen.
    Ich nahm mir eine der Patientenakten vor und spürte, wie mir die Augenlider schwer wurden. Ich hatte in letzter Zeit viel gearbeitet und zusätzliche Dienste übernommen, weil ich mich beschäftigen musste, besonders zu dieser Jahreszeit. Entsprechend müde war ich.
    Noch vier Tage, dann würde ich fünfundzwanzig Jahre hinter mir und nur noch eines vor mir haben. Die Bewährungszeit einer einsamen Person, die überlebt
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