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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen
Autoren: Clemens J. Setz
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falsch ausgesprochene Wörter, vor allem Namen. Fremdsprachige Akzente waren dabei sehr hilfreich, aber mehr noch liebte er Muttersprachler, die sich zeit ihres Lebens mit einem einzigen Wort ihrer Sprache nicht anfreunden konnten und es immer wieder falsch betonten, in unermüdlichen Variationen. Seine Schwester Mirja war ein Beispiel. Wenn sie sagen wollte, dass jemand eine Top-Figur hatte, sprach sie es immer so aus, dass man unweigerlich an die unwahrscheinlichere
Topf-Figur
denken musste, an etwas Plumpes und unfreiwillig Komisches.
    Seine Vorliebe hatte sich auch auf andere Bereiche ausgeweitet. Er liebte es, wenn jemand diese quietschenden Geräusche auf den Saiten einer Gitarre erzeugte, wenn er nicht schnell genug zwischen zwei Akkorden wechseln konnte. Und er liebte Chet Baker, der ja im Grunde überhaupt kein Sänger war, aber doch der beste, den man sich vorstellen konnte, voll zurückhaltender Leidenschaft und hocherotischer Eintönigkeit. Verdutzten Audiophilen kaufte er alte Schallplatten ab, die wie ein Fahrradreifen zu der Form einer liegenden Acht verbogen waren und eierten. Als Kind hatte er einmal zugesehen, wie jemand ein Klavier stimmte, und sich entschieden, auf keinen FallKlavierstimmer zu werden. Entsetzlich, diese richtigen Töne und Frequenzen und Feineinstellungen!
    KERfuchs
, fiel ihm ein.
    Er lächelte.
    KERfuchs. KerFUCHS. Keeerfuchs
.
Du betonst es falsch! Ihr alle betont es falsch! Man muss sich ein stummes H denken
!
    Er hatte jetzt lange genug gewartet. Trotz des ungemütlichen Wetters ging er los, sofort erfasste ihn der Regen. Walter versuchte sich den Koffer über den Kopf zu halten, aber das Ding war einfach zu schwer. Er vollführte einen hilflosen Tanz und wäre beinahe von einem Bus angefahren worden, den er nicht bemerkt hatte. Gott sei Dank waren Busfahrer in Kleinstädten sehr viel friedlichere Menschen, und der Bus war einfach langsamer geworden, anstatt wie wild um sein Leben zu hupen. Aber dann sah Walter, warum der Bus langsamer geworden war. Einige Meter entfernt stand das Schild einer Haltestelle. Er rannte dem Bus nach.
    Eine alte Frau schälte sich aus der Tür. Die drei Stufen bis zum regennassen Boden waren ein Schwindel erregender Abstieg ins Ungewisse. Walter bot ihr seinen Arm an, aber für die alte Frau war er unsichtbar. Sie schaffte es allein.
    Er setzte sich in den hinteren Teil des Busses. Auf dem Platz neben ihm saß ein angebissener Apfel, der wie in Trance hin und her schaukelte, als der Bus sich in Bewegung setzte. Er legte sich seinen Koffer auf die Oberschenkel und spürte, wie die Haut seiner Beine unter dem Gewicht in den Schaukelbewegungen hin und her gezogen wurde. Das Gefühl irritierte ihn so sehr, dass er den Koffer wieder zwischen die Beine klemmte.
    Nachdem er ausgestiegen war, betrachtete er noch die Türen, die sich geschmeidig hinter ihm zusammenfalteten. Es regnete jetzt schon viel weniger, und Walter fuhr sich mit der Hand durch die feuchten Haare.
    Er bog in seine Straße ein. Nur wenige Häuser standen hier. Ganz am Ende befand sich das Haus seiner Familie. Das größte.
    Ein Mann, der allein ein weißes Tandem schob, überquerte die Straße. Als er Walter sah, nickte er zur Begrüßung. Walter tat so, als würde er auf seine Schuhe schauen.
    Er sah fremde Kinder in der breit angelegten Einfahrt des Hauses spielen, eine Szene, die ihn sonderbar berührte, als hätte er sie irgendwann schon einmal erlebt. Die Kinder malten trotz des Regens mit Kreide etwas auf den nassen Beton. Als er näher ging, erschraken sie und ließen sich von ihm wie Rehe verscheuchen. Ein Kind ließ sogar einen Handschuh liegen und rannte nun mit einer nackten Hand nach Hause. Walter hob den Handschuh auf, es war der linke. Er versuchte zu erkennen, was die Kinder auf die Straße gemalt hatten, aber es ergab keinen Sinn. Zwei geometrische Figuren, die sich in einem seltsamen Winkel schnitten.
    Die trägen Schreie der Gartenfasane wehten über den Zaun. Bei Regen waren die Vögel zwar meist im Gehege, aber sie ließen es sich nicht nehmen, das schlechte Wetter lautstark zu kommentieren. Früher war hinter dem Haus nur ein alter, seniler Garten gewesen, der sich in allerlei Hirngespinsten aus Unkraut und Kletterpflanzen erging, mit einem kleinen, schwarzen Tümpel in der Mitte, von dem wie von einer unverheilten Platzwunde am Hinterkopf der ganze geistige Verfall auszugehen schien. Nachts konnte man meinen, das Röcheln der sich gegenseitig verdrängenden und zu
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