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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen
Autoren: Clemens J. Setz
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was das kleine Ding in ihrer Hand soll, was
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sind und warum es nicht zu klingeln aufhört, wenn man es sich ans Ohr hält.
    Also spielen wir ein wenig damit, um es kennen zu lernen.
    – Hier ist der Ausschaltknopf.
    Frau Gotthard antwortet:
    – Ja.
    – Und das ist gleichzeitig der Ausschaltknopf, sage ich.
    Sie bemerkt es sogar noch vor mir. Sie beginnt zu grinsen.
    – Ah, jetzt habe ich Unsinn geredet, haben Sie gehört? Zweimal Ausschalt…
    Ihr Kopfzittern nickt.
    – Gleichzeitig der Einschaltknopf, wollte ich sagen. Probieren Sie mal.
    Sie blickt eine Weile auf das Telefon in ihrer Hand, dann hebt sie den Kopf und stellt eine sehr ernste Frage, auf die es keine Antwort gibt:
    – Wohin ist sie gegangen?
    – Wer?
    – Sie war eben noch hier.
    Der Dämmer, in dem sie kurz darauf versinkt, ist so tief, dass es davon im Zimmer kälter wird.

    Mit weißem Klebeband habe ich auf meinem Schlafzimmerboden den Umriss einer Tatort-Leiche gebastelt. Als Lydia die Figur zum ersten Mal sah, sagte sie, nun wisse sie endlich, warum sie ausgezogen sei. Und womit ich ihre Abwesenheit ausfülle.
    – Du betrügst mich mit einem Beweisstück, sagte sie kichernd, kniete sich hin und zupfte am losen Ende eines Klebestreifens herum.
    Mit ihren eckigen Proportionen und der Ökonomie ihrer Bestandteile (siebzehn Streifen) erinnert die Figur ein wenig an ein Ampelmännchen. Da der eine Arm schräg vom Körper absteht, als strecke sie sich nach etwas schwer zu Erhaschendem, schläft meine Hand oft schon nach kurzer Zeit ein, wenn ich mich in den Umriss lege.
    Ich liege auf dem Rücken und starre nach oben. Da ich gerade noch in die Sonne geschaut habe, wandern große rote Flecken über die Decke, wie die Wachsklumpen in einer Lavalampe. Es ist so unbequem hier auf dem Schlafzimmerboden, dass ich schon nach ein paar Minuten einschlafe.
    Ich begegne sonderbaren Frauen, die ihre kaputten Lampenschirme durch Schneekugeln ersetzen, die sie in einem Steinbruch abbauen. Mit den Schneekugeln statt der Glühbirnen verringert sich die Zimmertemperatur um ganze zehn Grad.
    Als ich erwache, stelle ich überrascht einen neuen Rekord fest. Fünf Stunden am Stück. Draußen ist es schon dunkel. Dann höre ich das Geräusch zum ersten Mal. Ein Poltern, als würde irgendwo ein Sack Kartoffeln über einer Treppe ausgeschüttet, dann ein lauter Knall. Wenig später wiederholt sich das Geräusch, dann wieder und wieder.
    Ich bleibe liegen. Eine Sirene ertönt – eines jener Signale,die erfunden wurden, damit man nicht vergisst, dass die Welt in der Nacht noch existiert, allen Laterna-Magica-Spielen des eindösenden Gehirns zum Trotz. Das dazugehörende Bild drängt sich sofort auf: ein stillstehender Rettungswagen, grau in der Nacht, wie alle Autos, stößt seinen einsamen Ruf aus. Da er sich nicht von der Stelle rührt, muss es ein Hilferuf sein. Ein Rettungswagen, der selbst um Hilfe ruft. Ein Wagen, der in seinen Ketten singt wie das Meer singt Kettenmeer
in my chains like the sea

    Das Geräusch weckt mich. Ein bedrohliches leises Poltern, gefolgt von einem lauten Knall. Diesmal ist es lauter. Und näher.
    Am nächsten Morgen klopft es an der Tür, und ich erhebe mich aus meinem harten, geometrischen Nest. Mein Nacken schmerzt und der Rücken schwört, er sei soeben neun Stunden auf einer Streckbank gelegen. Schnell ziehe ich etwas an, währenddessen klingelt es. Ich schwanke ins Vorzimmer. Hinter meinem Rücken halte ich, wie eine Waffe, die man zu gegebener Zeit hervorholen und dem Gegner an die Kehle drücken kann, mein Telefon.
    Ich öffne die Tür einen Spaltbreit. Das Gesicht von Herrn Steiner, dem Vermieter, schwebt dort draußen, ein lachender Halloween-Kürbis, in ein fantasievolles Kopftuch gewickelt, wie es sonst nur Bäuerinnen tragen. Aus seinem ordentlichen Hemdkragen schaut ein türkises Gewandstück hervor, das unmöglich zu der Garderobe eines Erwachsenen gehören kann. Der Alte verfällt, seit ich hier in seinem Haus wohne, auf immer seltsamere Verhaltensweisen. Einmal im Sommer hat er sogar vergessen, sich eine Hose anzuziehen. Meist geht er mit einem Pyjamaoberteil durch die Gegend.
    Ich erweitere den Türspalt, so dass man nun zumindest einen Arm hindurchstrecken könnte. Einen Arm mit einer Handgranate.
    – Herr Steiner, guten Morgen.
    – Guten Morgen. Ich wollte Ihnen nur … also, damit Sie das jetzt nicht missverstehen …
    – Ist etwas passiert?
    – Passiert – nein, nichts Schlimmes, ich wollte Sie nur
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