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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen
Autoren: Clemens J. Setz
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    – Ich bin gerade etwas in Eile.
    – Also, ich will Sie auf keinen Fall aufhalten, aber es hat da nämlich ein paar Beschwerden gegeben –
    – Weswegen?
    – Also nicht direkt Be
schwer
den, also … Bemerkungen, wegen des Lärms spätnachts.
    – Aha?
    – Und da wollte ich Ihnen nur sagen, dass Sie das nicht waren.
    – Wie meinen Sie?
    – Sie waren das nicht, sagt Herr Steiner.
    Mit meiner freien Hand mache ich eine Geste, die alles Mögliche bedeuten kann.
    – Nein, nein, sagt Herr Steiner, als hätte ich gegen seine Behauptung protestiert, Sie waren das mit Sicherheit nicht. Ich weiß das.
    – Okay.
    – Ich wollte es Ihnen nur rechtzeitig sagen, bevor Sie jemand darauf anspricht.
    – Danke.
    – Sie sind immer ganz leise, erklärt er mir. Bis auf das eine Mal.
    – Ach das, sage ich. Na ja, aber das war nur … Sie wissen ja, wie das ist. Junge Menschen, die der Welt zeigen wollen, dass sie existieren.
    – Vom Balkon aus, sagt er mit mehr Ironie in der Stimme, als ich ihm zugetraut hätte.
    – Es war ja nur das eine Mal. Kommt auch nicht mehr vor.
    Ich spiele ein wenig mit dem Türspalt, um zu sehen, ob ich ihn dadurch vertreiben kann. Es funktioniert nicht. Er bleibt stehen, obwohl er bereits alles gesagt zu haben scheint.
    – Aber das neue … das kommt von überall, sagt er.
    – Was ist überall?
    – Na, die Beschwerden. Der Lärm. In den oberen Stockwerken, aber auch ganz unten. Das können also nicht Sie sein.
    – Ach so. Nein … Nein, ich war’s auch nicht. Wie Sie gesagt haben, ich bin immer ganz leise.
    – Eben.
    – Ah ja, Herr Steiner, wenn Sie schon einmal hier sind, sage ich, wegen meiner Tür …
    Er schaut verständnislos.
    – Sie schließt nicht mehr richtig. Sie erinnern sich, ich hab Sie schon einmal darauf angesprochen. Theoretisch kann jeder hier einfach reinspazieren. Und außerdem hab ich schon seit Wochen keine Post mehr bekommen und es haben mir verschiedene Leute versichert, sie hätten mir Briefe geschickt, also …
    Derselbe dumme Blick.
    – Am besten, ich schreibe Ihnen einen Brief mit all meinen Problemen, sage ich.
    – Ja, lacht er. Haha.
    – Okay.
    Er macht immer noch keine Anstalten zu gehen. Mit dem Daumen wähle ich meine Festnetznummer. Herr Steiner sieht mich unterdessen freundlich an, aber auchetwas verwirrt. Der Grad der Verstörung, unter der ein Mensch zu leben gezwungen ist, beeinflusst erwiesenermaßen die Dauer seiner Blicke. Je starrer die Augen, desto verstörter.
    Es klingelt, ich zucke zusammen.
    – Entschuldigung, ich –
    Ich deute ins Innere.
    – Ich muss dann wieder zurück. Also
    dann. Also.
    – Oh, ja …
    Herr Steiner macht ein paar Schritte rückwärts, wendet sich dabei langsam von mir ab, während ich lächle und die Tür sanft schließe. Merkwürdig, denke ich noch, sonst beschweren sich die Nachbarn immer direkt. Die Mieter unter mir klopfen, wenn sie spätnachts um Ruhe bitten wollen, von unten an die Zimmerdecke, das immer gleiche Zeichen: der erste Teil von
SOS
.
    Wenn ich im Hof das Rad aufsperre, kommt es vor, dass ich dem Kind aus der Wohnung unter mir über den Weg laufe. Es ist der Sohn einer Frau um die Vierzig. Sie geht mit einer großen, sehr dunklen Sonnenbrille durch den hellen Tag, und manchmal trägt sie dabei nichts als einen Bademantel und dazu passende Sandalen. In den frühen Morgenstunden kann man jede Woche einen anderen Mann aus der Wohnungstür kommen sehen. Der Mann zieht sich die Krawatte an oder kämmt sich, während er langsam und mit O-Beinen die Treppe hinuntersteigt.
    Im Winter hat der Junge oft Miniatur-Schneemänner gebaut (der Schnee bleibt im Hof nie lange liegen und wird vom Hausmeister schnell auf einen schmutzigen Haufen geschaufelt, der dann humorlos in einer Ecke liegt und schmilzt) oder sich an strategischen Punkten mit einem Ast im Anschlag postiert. Manchmal, wennich durch den Schnee an den weiß eingepuppten Fahrrädern vorbeiging, die dort im Hof ihren Winterschlaf hielten, schoss er auf mich, mit zwei Fingern, zwei Pistolen, abwechselnd,
P’tschiu, P’tschiu
!, und schaute mich dabei mit diesem aufgeregten, von der Kälte rot gebackenen Gesicht an. Wenn ich dann stehen blieb und ihn ebenfalls anschaute, duckte er sich hinter den Schneehügel oder hinter eines der Autos, erschien aber gleich wieder, mit einem fast schon unheimlichen Blitzen in den winzigen Augen, und schoss erneut, diesmal eine ganze Salve, laut und leidenschaftlich, aus seinem Ast-Gewehr:
T-t-t-t-t-t
! Ein wenig
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