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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen
Autoren: Clemens J. Setz
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nicht in ihrem Gehege. Sie gingen zerstreut in der Wiese herum und unterhielten sich eingehend mit dem Boden unter ihren Füßen. Die nervösen Vögel hielten Einbrecher besser fern als jeder Wachhund oder gar eine Alarmanlage. Das Geschrei, das sie schon bei der geringsten Irritation machten, übertraf jedes Gebell oder Sirenengeheul.
    – Walter! He!
    Die Stimme seiner Schwester.
    – Wo warst du denn?, sagte Mirja. Ich hab dich überall gesucht!
    – Auf dem Bahnhof, sagte er. Wie angekündigt …
    Er umarmte sie kurz.
    – Da haben wir, haha, da haben wir uns wohl irgendwie verpasst.
    Sie lachte, als wäre es das Komischste, was ihr seit langer Zeit passiert war. Vom Garten her ertönte aufgeregtes Geschrei. Einer der Fasane hatte es irgendwie auf das Sitzbrett der Schaukel geschafft und schien nun zu überlegen, wie er wieder herunterkommen sollte. Er begann sich auf sonderbare Weise vor und zurück zu wiegen, als stände er auf einem Skateboard. Ein hellbrauner Rivale, der ihm von unten zusah, schrie ihn unterdessen in wildem Protest an, wie ein empörter Punkterichter. Ein paar helle Fasanenhennen gingen im Gras spazieren, die Köpfe gesenkt wie unter Kapuzen, auf der ständigen Suche nach Nahrung. Sie pickten nebeneinander auf den immer gleichen Stellen im Gras herum, als machten sie Smalltalk. Im Sommer wichen die Vögel manchmal von ihrer vegetarischen Diät ab und fingen Insekten und Käfer. Deshalb waren sie jetzt, im Oktober, wohlgenährt und selbstbewusst. Während die Hennen fast einfärbig waren, kleideten sich die Hähne in ein schillerndes Harlekinsgewand in kräftigen Breughelschen Herbstfarben, das von einer roten Kriegsbemalung in den ständig empörten Gesichtern gekrönt wurde.
    – Setzen wir uns, sagte Mirja und deutete auf die nassen Gartenmöbel, die auf der Terrasse standen.
    Walter gehorchte. Er fragte sich, wo seine Eltern sein mochten. Wenig später kam Mirja mit einem Tablett wieder, auf dem sie zwei Limonadegläser balancierte. Schweigend saßen sie nebeneinander.
    Mirja erzählte Walter schließlich, dass vor kurzem einer der Fasane in der Nacht von einem Fuchs oder einerstreunenden Katze angefallen worden sei. Es sei dem Fasan irgendwie gelungen, dem Angreifer zu entkommen. Mit verletztem Fuß soll sich der Hahn bis vor die Terrassentür geschleppt und dort die Nacht lang gelegen haben, bis Mirja ihn endlich am Morgen fand und trösten konnte. Der Hahn sei völlig hysterisch gewesen und habe am ganzen Körper gezittert. Er habe büschelweise Federn verloren. Sie habe den wehklagenden Vogel in den Gepäcksträger ihres Fahrrads gesetzt und sei mit ihm zum Tierarzt gefahren. Wenige Tage später gockelte er schon wieder prächtig und angeberisch im Garten umher und hatte den Zwischenfall völlig vergessen.
    – Sie sind schwierig, sagte Mirja. Aber ich kümmer mich um sie.
    – Sicher, sagte Walter.
    Sie schwiegen wieder und nippten an der Limonade. Ein typisches Gartengetränk, dachte Walter. Alle Menschen, die in Gärten sitzen, trinken Limonade. Er blies in seinen Strohhalm und die neongelbe Flüssigkeit blubberte.
    Später kam Wind auf und brachte Unruhe unter die Fasane. Die Terrassentür überlegte sich knarrend, ob sie mit einem lauten Knall zufallen sollte, und weiße Hemden turnten lautlos über eine Wäscheleine.
    – Warum bist du gekommen?, fragte Mirja.
    – Ich wollte euch sehen.
    – Ja, aber warum?
    – Hab ich doch gerade gesagt, ich wollte –
    – Nein, ich möchte einen Grund hören.
    Walter schwieg.
    – Angsthäschen, sagte seine Schwester.
    Es war ein Zauberwort zwischen ihnen. Sie gebrauchte es immer dann, wenn sie wusste, dass sie schlauer oder mutiger oder verschlagener war als er. Walter hatte sichzwar inzwischen abgewöhnt, jedes Mal wie ein Pawlowscher Hund darauf zu reagieren und unverzüglich Entschuldigungen oder Erklärungen zu winseln, aber es war ihm trotzdem noch immer unangenehm, das Wort zu hören. Das Schlimmste war die Verniedlichungsform, die so unnatürlich wirkte, fast schon bedrohlich.
Angsthäs-chen
, so hätte ein Horrorfilm heißen können.
    – Warum also?, fragte seine Schwester.
    – Ach, wegen einer … einer Frauengeschichte.
    Da er in Bedrängnis war, hatte Walters Stimme einen Ton angenommen, den nur er hören konnte. Geflunker. Funkensprühendes Geschwätz. Er streckte sich ein wenig, knackte mit einem Fingergelenk, dann ergänzte er:
    – Es hat da eine kleine … Meinungsverschiedenheit gegeben.
    – Mit einem Mann?, fragte seine
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