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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen
Autoren: Clemens J. Setz
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Tode würgenden Schlinggewächse zu hören. Dann hatte Walters Vater angefangen, den Gartenin einem künstlerischen Sinn neu zu konzipieren. Er fertigte Pläne und Skizzen an, und nach einer schlaflosen Nacht voller Inspirationen schaffte er ein paar zahme Fasane an.
    Von außen sah das Haus noch verfallener aus, als er erwartet hatte. Anscheinend erledigte seit langer Zeit niemand mehr irgendwelche anfallenden Arbeiten. Das Dach machte einen unerhört schäbigen Eindruck, und das, was man vielleicht eine Veranda hätte nennen können, erinnerte an ein zur Hälfte aus dem Mund geschobenes künstliches Gebiss. Besucher, die diese offensichtlichen Mängel bemerkten und so waghalsig waren, diese anzusprechen, wurden von seinen Eltern, besonders von seinem Vater, der ein angesehener Architekt war, daraufhingewiesen, dass es darauf nicht ankomme. Wenn die Besucher daraufhin den kaputten Fußboden und die im Koma liegenden Möbel im Inneren des Hauses sahen, sprachen sie entweder bereits von einem bestimmten
Flair des Vergangenen
, der über allem liege, oder sie kamen nicht mehr zu Besuch.
    Walter betrat das Haus. Die Tür war, wie für kleine Ortschaften üblich, nicht verriegelt.
    – Hallo?
    Das Wohnzimmer sprang ihn an und fiel ihm um den Hals, überschüttete ihn mit uralten Erinnerungen, die wie einstudierte Szenen durch sein Gedächtnis geisterten. Ein Daumenkino aus Stimmen, Gerüchen und Schattenrissen. Er ging in die Küche, warf einen Blick auf die Terrasse. Auch da war niemand.
    Er ließ den Koffer unten stehen und ging die Treppe hinauf. Er öffnete die Tür zu seinem Zimmer und trat ein. Er musste durch den Mund atmen. In dem Zimmer roch es nach sterbendem Teppich. Er machte ein Fenster auf und ging wieder nach unten.
    – Hallo?
    An einer Wand im Wohnzimmer hing das Porträt eines seiner Vorfahren, des Orgelbaumeisters Joseph Jeremias Lengel, ein ernstes Gesicht mit weißem Haar, das hinter den Ohren hervorbüschelte, das glatte Plateau der Glatze aber unangetastet ließ, in der sich eine von dem unbekannten Maler vorbildlich eingefangene Lichtreflexion spiegeln konnte, die selbst der geschmackvollen Rundung eines Fürstenhelms würdig gewesen wäre. Walter wusste nicht genau, in welchem Verwandtschaftsverhältnis er zu diesem Orgelbauer stand, dessen Gesicht so verwirrt aus der Leinwand starrte, als frage er sich, wie um alles in der Welt es ihn in dieses Jahrhundert verschlagen hatte, in dem es keine Kutschen mehr gab und auch keine rechte Moral.
    Dass niemand im Haus war, bedeutete wahrscheinlich, dass sie ihn doch abholen gegangen waren. Sie mussten sich verpasst haben.
    Er versuchte Mirja anzurufen, es läutete sechs Mal, dann meldete sich eine Computerstimme und sagte sinnlose Zahlenreihen auf, also ging er zurück in sein Zimmer, diesmal mit seinem Koffer, der mehrmals an die Treppenstufen stieß und das alte Holzgeländer erzittern ließ. Mindestens drei Tage wollte er hier bleiben. Dann konnte er ja sehen, wie es weiterging. Er brauchte auf jeden Fall ein gewisses Zeitpolster, eine Distanz zu all den verwirrenden Ereignissen.
    Als er seine Kleider in den Kasten legen wollte, sah er, dass der Schrank völlig ausgehöhlt worden war. Die Stange, an der sonst die Kleiderhaken hingen, fehlte. Die Kleiderhaken lagen wie Büroklammern verstreut auf dem Kastenboden. Er suchte in seinem Zimmer nach der Stange, fand sie nirgends, dann fiel es ihm ein, und ein nachsichtigesLächeln überflog sein Gesicht. Natürlich. Er öffnete den Koffer und kramte den langen Metallstab hervor. Natürlich, natürlich. Wie dumm von ihm.
    –
X
!
    Statische Elektrizität entlud sich, als er den glänzenden Stab berührte. Er befestigte ihn in seinem Kasten, der anerkennend knarrte, und hängte die Kleiderbügel auf. Sie klirrten leise.
    Zu seinem großen Erstaunen stellte Walter fest, dass das Haus auf der Gartenseite ein wenig hergerichtet worden war. Zumindest konnte man die Fassade jetzt wieder als solche erkennen, und die Dachfenster glänzten ordentlich und geometrisch, sie mussten gerade geputzt worden sein. Es sah so aus, als hätte sich das Haus zu einem feierlichen Anlass als Haus verkleidet.
    Die Schaukel hing immer noch von einem Ast des Nussbaumes, der schon seit vielen Jahren außer Betrieb war. Ein großes Geschwür wuchs auf seinem Hals und raubte ihm die Luft. Kleine Singvögel sprangen verwirrt von Ast zu Ast und zerbrachen sich den Kopf darüber, ob und wie dem Baum noch zu helfen war.
    Die Fasane waren
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