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Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau, die vom Himmel fiel: Roman (German Edition)
Autoren: Simon Mawer
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so getan, wie sie es in der Meoble Lodge vorhergesagt haben, aus der Nähe. Mit zwei schnellen Schüssen. Und kaltblütig, mehr oder weniger. Ein guter Ausdruck, kaltblütig. Weil Blut niemals kalt ist. Solange du nicht tot bist, jedenfalls.
    Sie zwingt sich, ihn anzusehen. »Sie hatten mich in die Enge getrieben, in einer Sackgasse in Belleville. Da hab ich sie erschossen. Ich bin eine Mörderin, Clément. Sie haben aus mir eine Mörderin gemacht.«
    »Das ist doch Unsinn.«
    »Und dieser Mann war da, der mich schon mal verfolgt hat. Ich hab ihn da gesehen. Julius Miessen heißt er.«
    »Na, hier verfolgt er dich jedenfalls nicht.« Er hebt einen Arm und zieht sie an sich. Sie spürt die brennenden Tränen. Er senkt den Kopf und küsst sie auf die Wange und die Augen und dann auf den Mund. Sie versucht, sich von ihm zu lösen. »Das Radio«, sagt sie mit Nachdruck. »Wir müssen das Radio anmachen.«
    »Gibst du denn nie auf?«
    »Ich kann nicht aufgeben«, erwidert sie. »Verstehst du das nicht? Wenn ich aufgebe, bin ich tot.«
    Sie sitzen im Salon, hören Radio Londres , trotz des Störsenderrauschens. Der Trommelschlag des Buchstabens V ertönt aus dem Lautsprecher. Und dann die Stimme des Sprechers: » Ici Londres. Les Français parlent aux Français . Zunächst ein paar Nachrichten für unsere Freunde.«
    Sie lauschen den Nachrichten, die verlesen werden, den Nonsenssätzen, manchmal poetisch, oft bloß banal. Die Stimme ist ruhig, als würde ein Vater seinem Kind ein Gedicht vortragen, ohne den Lärm drum herum zu registrieren:
    » Grand-mère a cueilli des belles fleurs … La pluie tombe sur la plaine … Jean veut venir chercher ses cadeaux … Le cadavre exquis boira le vin nouveau … Le garagiste a les mains pleines de graisse … «
    »Da«, ruft sie. »Der Automechaniker hat ölige Hände. Das ist das Zeichen.« Das Gefühlschaos, das sie empfindet, verwandelt sich für einen Moment in etwas Körperliches. Übelkeit, Galle steigt ihr in die Kehle. »Es geht los. Die Rückholung läuft. Das Problem ist …«
    Was ist das Problem? Das Problem ist, dass sie sich krank fühlt, dass die Stimmen ihr noch immer zuraunen, wie eine Melodie, die ihr unaufhörlich durch den Kopf kreist, etwas, das sie nicht loswird.
    »Das Problem ist, dass sie jetzt nach mir fahnden. Ganz Paris wird inzwischen nach mir suchen. Die wissen, dass ich eine Rückholung organisiert habe, und sie haben meine Beschreibung. Yvette hat ihnen sicher alles verraten. Ich bin aufgeflogen, Clément.« Brûlée ist das französische Wort. Das trifft es genau, denn genauso fühlt sie sich – verbrannt, versengt. »Ich bin für alle eine Gefahr.« Sie ringt sich ein Lächeln ab. »Radioaktiv.«
    Clément zuckt die Achseln. »Daran bin ich gewöhnt. Etwas Radioaktives steckt man einfach in einen bleiverkleideten Behälter, mehr nicht. Wo müssen wir morgen eigentlich hin? Du hast mir noch keine Einzelheiten verraten.«
    »Wir nehmen den Zug nach Bordeaux.«
    »Von Austerlitz? Das ist leicht.« Er lächelt, das ärgerliche Lächeln, das er immer aufsetzt, wenn er kurz davor ist, einem zu beweisen, dass man falschliegt oder blöd ist, das Lächeln, das sie verabscheut und zugleich geliebt hat. »Wir steigen eine Station später ein, in Ivry. Da kommen wir mit dem Laborwagen hin. Das Collège genießt gewisse Privilegien, und eines davon ist der Wagen, der ziemlich oft zwischen dem Collège und dem Labor in Ivry unterwegs ist. Morgen fährt er wieder nach Ivry. Praktisch jeden Tag.« Er nimmt ihre Hand und zieht sie näher heran. »So, jetzt musst du dich ausruhen. Du brauchst vor allen Dingen Schlaf.«

DRITTER VOLLMOND
    I
    Sie träumt. Diesmal nicht vom Fallen, sondern vom Rennen, wie sie durch Gassen rennt, vor Leuten wegrennt, Leute tötet, die sich aber nicht hinlegen und sterben, sondern mit ihr in Stimmen sprechen, die sie nicht versteht. Manchmal sind ihre Eltern dabei, manchmal Ned, einmal Benoît. Die Gassen haben kein Ende, keinen Ausgang, alle Wege sind blockiert. Eine Sackgasse. Und dann hat der Traum einen anderen Teil, der noch gefährlicher ist, einen Teil, in dem sie nackt daliegt, auf der Grenze zwischen Verlangen und Bedürftigkeit, und Cléments Schatten ist über ihr, erkundet das Innenleben ihres Körpers, berührt sie an Stellen, wo der Mechanismus kaputt oder defekt zu sein scheint. »Du bist schön«, sagt er zu ihr, aber sie weiß es besser.
    Als sie aufwacht, spürt sie ihn im Dunkeln neben sich, die Krümmung seiner
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