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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Autoren: Stephen Grosz
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von Beschwichtigung. Darüber hinaus war ich davon überzeugt, dass wir Psychoanalytiker es noch sehr viel häufiger mit Patienten wie Anthony zu tun bekommen würden. Während einer Kaffeepause kam ein bekannter amerikanischer Analytiker zu mir und sagte: »Nach Ihrer Präsentation bin ich mit einigen Kollegen ins Reden gekommen und möchte Sie nun fragen, warum Sie Ihre Zeit mit diesem Patienten vergeuden. Er wird bald sterben. Warum helfen Sie nicht jemandem, der noch eine Zukunft hat?«
    Seine Frage schockierte und ärgerte mich. Ich fand sie grausam. Für Anthony und mich stand fest, dass ihm die Analyse geholfen hatte, seine Ängste und Depressionen zu überwinden, so dass er besser mit den Ärzten umgehen konnte. Die Analyse half ihm auch, mit dem Unbekannten zurechtzukommen. Um es mit seinen Worten zu sagen: »Lebe gut, solange du kannst, sterbe gut, wenn du musst.«
    Trotzdem ließ mich die Frage des amerikanischen Analytikers nicht los; sie machte mir deutlich, wie sehr ich meinen Patienten in Schutz nahm.
    Einige Wochen später fragte mich Anthony, ob wir uns auch dann noch sehen würden, wenn man ihn in ein Krankenhaus einlieferte. Ich versprach, jeden Tag zu unserer Sitzung zu kommen; wir würden uns weiterhin fünfmal die Woche treffen.
    »Und wenn man es im Krankenhaus nicht erlaubt?«
    »Ich denke nicht, dass man mir verbieten kann, während der Besuchszeit zu Ihnen zu kommen, einen Stuhl an Ihr Bett zu ziehen und mich mit Ihnen zu unterhalten.«
    »Vielleicht gibt man uns ein eigenes Zimmer. Und wenn nicht, könnten wir doch einfach den Vorhang ums Bett ziehen, nicht?«
    »Sie wollen wissen, dass ich zu Ihnen komme, solange Sie mich brauchen, und das werde ich.«
    Er antwortete, er wisse, dass ich bei ihm bleiben würde, und dann weinte er.
    Erst nach diesem Gespräch konnten wir besser in Worte fassen, was er wollte. Er wollte zum Ende hin lieber Selbstmord begehen, sagte er, als das Gefühl zu haben, der HIV-Virus hätte gewonnen. Er wollte nicht verängstigt und allein sterben, und soweit irgend möglich wollte er keine Schmerzen leiden. Er wollte nicht in einem Zustand der Panik, nicht in Angst vor der eigenen Auslöschung sterben, er wollte »mit dem Tod leben« können.
    *
    Anthony findet, er hat Glück gehabt. Zweiundzwanzig Jahre nach unserer ersten Begegnung ist die Viruslast im Blut nicht mehr messbar, und die Anzahl der CD4-Zellen liegt im normalen Bereich. Er ist bei guter Gesundheit. Da er nicht mehr fürchtet, akut zu erkranken, wenn er über AIDS redet oder auch nur daran denkt, kümmert er sich aktiv um seine medizinische Versorgung. Und die richtige Medizin kam zur richtigen Zeit. »Nimm dies, du Arsch«, denkt er, wenn er seine tägliche Pillenration schluckt.
    Wir treffen uns immer noch, allerdings nicht mehr so häufig. Und wenn auch nur noch selten, so gibt es doch weiterhin Gelegenheiten, bei denen er während einer Sitzung für wenige Augenblicke einschläft – meist an jenen Tagen, an denen er einen Bluttest machen ließ, das Ergebnis bekam oder vom Tod eines Verwandten oder Freundes erfuhr. Wenn es heute geschieht, ist es wie ein Signal, das uns beide mahnt, um wie viel der Tod uns näher ist, als wir glauben wollen.
    Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass Anthonys Schweigen zu verschiedenen Zeiten Unterschiedliches bedeutet hat: Trauer, das Verlangen, mir nahe zu sein und doch Distanz wahren zu wollen sowie der Wunsch, die Zeit anzuhalten. Anthony hat erzählt, dass er dieses Schweigen heilsam fand, eine Gelegenheit zu regredieren, sich umsorgen zu lassen. Die sich vertiefende Stille war ein Beweis für Anthonys wachsendes Vertrauen. Mag sein, dass dieses Schweigen auch seine Art war, den Augenblick des Todes zu proben, doch war es vor allem etwas, das wir gemeinsam durchgemacht haben. Und im Schweigen merkte Anthony, dass er den Gedanken an seinen Tod leichter ertragen und die Stille akzeptieren konnte, da er sich im Geiste eines anderen lebendig fühlte.

Über das Ende
    Meine Unterlagen zeigen, dass ich Alice P. im Juni 1988 zu einem ersten Vorgespräch traf. Sie begann die Sitzung damit, dass sie sagte: »Seit Jahren habe ich mich nicht mehr gefühlt, als wäre ich noch ich selbst. Ich weiß nicht, wie ich da rauskommen soll.« Alice P. erzählte mir ein wenig über ihre Familie. Sie und ihr Mann wollten den beiden Töchtern einen guten Start ins Leben geben, und »die Mädchen« hatten sich gut gemacht – die jüngere Tochter würde dieses Jahr ihr Medizinstudium
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