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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Autoren: Stephen Grosz
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Tage ihres Vaters. Er hatte nicht mehr sprechen können, und sie musste regelmäßig seine Windeln wechseln. In manchen Nächten fürchtete er sich, weshalb sie bei ihm blieb, bis die Sonne aufging. Und obwohl wir noch gar nicht über den Traum geredet hatten, behauptete Lucy zu wissen, was ich davon hielt.
    »Was denn?«, fragte ich.
    »Als ich mich um meinen Dad kümmerte, habe ich begriffen, dass ich auch in der Lage bin, mich um ein Baby kümmern zu können. Sie haben es zwar nicht so gesagt, aber ich habe damit gerechnet, dass Sie es sagen würden: ›Ihre Mum kommt in dem Traum nicht vor. In dem Traum geht es darum, dass Sie eine Mutter sind. Und Sie können eine Mutter sein, weil Sie herausgefunden haben, dass Sie keine Mutter wie Ihre Mum sein müssen.‹ Ich fand, der Zug, in dem wir fuhren, könnte ein neuer Gedankenzug bedeuten. Eigentlich war der Traum ziemlich direkt.«
    Lucy schwieg einen Moment und erzählte dann von einer Arbeitskollegin, die selbst durch künstliche Befruchtung nicht schwanger werden konnte. Nachdem sie dann die Zustimmung von einer Adoptionsagentur erhalten hatte, wurde sie doch noch schwanger. »Sie brauchte jemanden, der ihr sagte, dass sie eine gute Mutter sein würde. Mein Traum war ähnlich; in ihm habe ich mir selbst die Erlaubnis gegeben, schwanger werden zu dürfen, meinen Sie nicht?«
    »Ich habe es damals anders gesehen«, antwortete ich, »aber ich glaube, Sie haben recht.« Ich fand, Lucy hatte ihre Stimme gefunden – eine Möglichkeit, die eigenen Gefühle in Worte zu fassen – nicht nur mit, sondern auch trotz meiner Hilfe.
    In der verbleibenden Zeit erzählte sie von den Plänen, die sie und ihr Freund schmiedeten: Sie wollten aus dem Arbeitszimmer ein Kinderzimmer machen und sich später, wenn er mehr verdiente, eine größere Wohnung suchen.
    Während ich Lucy zuhörte, stellte ich sie mir mit einem Neugeborenen vor. Ich sah sie mit ihrem Baby im Park sitzen und das Kind einige Jahre später zur Schule bringen. Und ich spürte, sie hatte recht, sie hatte sich verändert – und damit begann das Ende unserer Arbeit.

Gehen/ Verlassen
    Durch Stille
    Anthony M. kam seit drei Monaten zu mir, als er sich endlich nach langer Diskussion auf AIDS testen ließ. Einige Tage später saß er auf der Couch und schluchzte hinter vorgehaltenen Händen – er war neunundzwanzig Jahre alt und hatte gerade erklärt bekommen, dass er HIV-positiv war. Das war 1989, und es gab noch keine Behandlung gegen AIDS.
    Sein Arzt in London wollte ihm nicht sagen, wie lange er noch zu leben hatte, also fragte er einen alten Freund, einen Arzt in San Francisco. Bei seinem Immunsystem, erklärte der Freund, könne er »mit zwei Jahren rechnen und auf vier Jahre hoffen«.
    In den Wochen, die auf das Testergebnis folgten, schilderte er viele Träume – Träume von Flugzeugen, die vom Himmel fielen, von Tornados, die die Erde aufwirbelten. In einem Traum hatten alle Menschen AIDS. Wir einigten uns darauf, dass dies bedeutete, wenn alle AIDS hatten, dann hatte keiner AIDS. Anthony fühlte sich isoliert, verängstigt und allein.
    Während dieser Zeit fuhr Anthony fort, über sein Leben und seine Gefühle zu sprechen, doch floss der Strom der Worte immer spärlicher und versiegte schließlich ganz. Manchmal kam Anthony, erzählte von der Arbeit, seiner Familie, einer Beziehung oder einem Arzttermin, um dann in Schweigen zu verfallen. An anderen Tagen legte er sich hin und blieb die gesamten fünfzig Minuten stumm. »Ich bin einfach so traurig«, sagte er am Ende einer solchen Sitzung.
    Es fällt mir schwer, die Gefühle zu beschreiben, die ich während dieser Sitzungen hatte – die überwältigende Schwere und Stille im Praxisraum. Dieses Schweigen hatte nichts Lähmendes an sich; wenn überhaupt, dann lauschte ich sogar noch aufmerksamer als gewöhnlich. Ich rutschte bis an den Stuhlrand und beugte mich vor. Es gibt eine Stille, die ist ungeduldig, jene Stille, wenn der Patient – die Arme verschränkt, die Augen offen – sich zu sprechen weigert. Es gibt eine unbehagliche Stille, wie sie zum Beispiel aufkommt, wenn etwas Intimes oder Sexuelles offenbart wurde. Anthonys Schweigen war völlig anders; er sperrte sich nicht und war auch nicht gehemmt. Einen Patienten, der eine Weile stumm bleibt, frage ich gewöhnlich, was er denkt oder fühlt, und ein- oder zweimal habe ich das auch bei Anthony getan, doch begriff ich bald, dass er meine Worte zudringlich und störend fand.
    Während ich Tag
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