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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Autoren: Stephen Grosz
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sicher an meiner eigenen Unerfahrenheit. Ich glaube, es braucht Zeit – jedenfalls habe ich Zeit gebraucht –, um zu erkennen, wie verschieden die Menschen sind. Und vermutlich hat es auch nicht geholfen, dass einige Patienten von etablierten Psychiatern und Psychoanalytikern überwiesen wurden, die mir helfen wollten, Fuß zu fassen. Oft überweisen Ärzte nämlich jene Patienten an jüngere Analysten, die sie selbst nicht behandeln oder anderswo unterbringen können. Und so plagte ich mich ab mit:
    Miss A., einer zwanzigjährigen Studentin. Obwohl der überweisende Analytiker bei Miss A. diagnostiziert hatte, sie leide »unter unkontrollierbaren Weinkrämpfen, Depressionen und anhaltenden Gefühlen der Unzulänglichkeit«, trat sie mir gegenüber als eine fröhliche, junge Frau auf, die felsenfest davon überzeugt war, keine Behandlung zu brauchen. Mit der Zeit erfuhr ich jedoch, dass sie unter Bulimie litt und sich zwanghaft regelmäßig schnitt. Da sie nur sporadisch zu ihren Sitzungen gekommen war, hatten bereits zwei Therapeuten die Behandlung aufgegeben.
    Professor B., einem vierzigjährigen Wissenschaftler, verheiratet, zwei Kinder. Ihm war kürzlich vorgeworfen worden, das Werk eines Rivalen plagiiert zu haben. Der Vizekanzler der Universität hatte die Angelegenheit an den Disziplinarausschuss weitergeleitet. Sollte sich der Vorwurf als berechtigt erweisen – und Professor B. gestand, dass dies durchaus der Fall sein könne –, sollte er vermutlich die Gelegenheit erhalten, ohne Aufsehen den Rücktritt einreichen zu dürfen. Sein Arzt hatte ihm Antidepressiva verschrieben und mich gebeten, mit ihm eine Analyse zu beginnen. Professor B.s Zustand wechselte abrupt zwischen hektischen Triumphgefühlen – so mokierte er sich etwa über seine Kollegen im Disziplinarausschuss – und völliger Niedergeschlagenheit.
    Mrs C.; ihr gehörte ein kleines Restaurant, das sie zusammen mit ihrem Mann führte; zudem war sie Mutter von drei Kindern. Sie suchte Hilfe, da sie sich ständig Sorgen machte und unter Panikattacken litt. Bei unserem ersten Treffen erzählte sie, dass es ihr schwerfiel, »ehrlich zu sein«, doch erst nach mehreren Monaten Therapie vertraute sie mir an, dass sie eine Affäre mit dem Kindermädchen hatte, mit jener Frau also, die seit sieben Jahren für die Familie arbeitete und kurz nach der Geburt des ersten Kindes eingestellt worden war. Entgegen einer Übereinkunft mit ihrem Gatten versuchte Mrs C. nun insgeheim, wieder schwanger zu werden, da sie den Gedanken, ihr Kindermädchen zu verlieren, nicht ertragen konnte.
    Ein weiterer Patient aus dieser Anfangszeit war ein junger Mann namens Peter, der in einem nahe gelegenen großen Psychiatriehospital behandelt wurde. Drei Monate, ehe wir uns kennenlernten, versteckte sich Peter in einem Schrank der Bezirkskirche und versuchte sich umzubringen, indem er eine Überdosis diverser Medikamente nahm und sich dann die Pulsadern aufschnitt. Außerdem stach er sich mit einem kleinen Messer in den Hals, in Brust und Arme. Die Putzfrau entdeckte ihn. Trotz ihrer Angst hielt sie ihn im Arm, bis der Krankenwagen kam. »Wer hat das getan?«, fragte sie ihn. »Sagen Sie mir, wer hat das getan?«
    Die Fachpsychiaterin im Krankenhaus wollte wissen, ob ich mich fünfmal die Woche mit Peter treffen könne. Sie meinte, eine Therapiestunde täglich sowie wöchentlich eine Sitzung mit ihr böten Peter die beste Chance, gesund zu werden und zu seiner Verlobten und seiner Arbeit zurückzukehren.
    Peter war siebenundzwanzig und arbeitete als Statiker. Ehe man ihn ins Krankenhaus einwies, hatte er sich mit seiner Verlobten eine kleine Wohnung außerhalb Londons gekauft. Bei der Arbeit gab es manche Schwierigkeiten, und er machte sich große Sorgen ums Geld, doch nichts davon schien seinen gewalttätigen Angriff auf sich selbst erklären zu können. Teil meiner Arbeit würde es also sein, gemeinsam mit Peter die Ursachen für seinen Selbstmordversuch herauszufinden, denn solange wir die Kräfte nicht verstanden, die ihn zu diesem Angriff auf sich selbst verleitet hatten, bestand Grund zu der Annahme, dass es erneut dazu kommen würde.
    Peter war groß und schlaksig, ließ aber, wie so manche Depressive, die Schultern hängen und hielt den Kopf gesenkt. Er benahm sich zudem entsprechend, redete stockend und mied häufigen Blickkontakt. Lag er erst einmal auf der Couch, bewegte er sich kaum mehr.
    Peter erschien zu all seinen Sitzungen und kam auch fast nie zu
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