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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Autoren: Stephen Grosz
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spät. Nach mehreren Monaten wurde er aus dem Krankenhaus entlassen und konnte in sein Leben zurückkehren. Nur spürte ich bei unseren Sitzungen immer häufiger, dass er an einen Ort verschwand, den ich nicht aufspüren und schon gar nicht verstehen konnte. »Sie sind lange still gewesen – können Sie mir sagen, woran Sie gedacht haben?«, fragte ich ihn während einer Sitzung.
    »An Ferien in Devon – damals war ich noch ein Kind«, antwortete er.
    Es folgte eine lange Pause. Könne er mir nicht mehr erzählen? Er erwiderte, er denke an nichts Bestimmtes, nur ans Alleinsein.
    Mir kam der Gedanke, dass er sich von mir fort wünschte, dass er Ferien von der Analyse haben wollte, und das sagte ich ihm auch. »Könnte sein«, erwiderte er.
    Es war, als versuchte Peter sich vor meiner Zudringlichkeit zu schützen, indem er einerseits die Konventionen einer Psychoanalyse einhielt – so etwa kam er pünktlich und beantwortete meine Fragen –, dies andererseits aber auf eine Weise tat, als versuchte er zu verhindern, dass sich irgendeine bedeutsame Verbindung zwischen uns entwickelte. Er schien nur wenig Hoffnung in unsere Gespräche zu setzen.
    Dann erfuhr ich, dass es für Peter typisch war, Freunde zu gewinnen, um sich später gegen sie zu wenden. Im Berufsleben ging er ebenfalls still seiner Arbeit nach, bis er mit dem Vorgesetzten plötzlich einen Streit vom Zaun brach und kündigte. Das war bereits mehrere Male geschehen. Ich versuchte Peter mit diesen Informationen zu zeigen, dass ihm offensichtlich zwei psychologische Positionen zur Wahl standen – Mitmachen oder der radikale Bruch. Er schien mir beizupflichten, doch hatte ich nie den Eindruck, dass ihm diese Einsicht etwas bedeutete. Und bald trat das gleiche Schema auch in der Analyse zutage. Statt mitzumachen, begann Peter, sich über mich lustig zu machen. Nach einer Woche, in der es besonders heftig zuging, hörte Peter auf, zu den Sitzungen zu kommen. Ich schrieb und schlug ihm vor, mit mir darüber zu reden, warum er die Behandlung abbreche, erhielt aber keine Antwort.
    Ich kontaktierte die Psychiaterin, die mir erzählte, Peter habe auch aufgehört, zu ihr zu kommen.
    Zwei Monate später traf ein Brief von Peters Verlobter ein, die mir mitteilte, dass Peter sich das Leben genommen hatte. Sie schrieb, Peter sei im Monat vor seinem Tod zunehmend verstört und in sich gekehrt gewesen. Die Beerdigung im Krematorium in West-London hatte bereits vor einer Woche stattgefunden. Sie schrieb auch, dass sie dankbar für meine Bemühungen um ihn sei. Ich schickte ihr einen Kondolenzbrief und informierte Peters Psychiaterin.
    Ich hatte gewusst, dass Peter ein Risikopatient war. Als ich ihn annahm, zog ich einen Supervisor hinzu, einen erfahrenen Psychoanalytiker, der ein Buch über Selbstmord verfasst hatte. Wiederholt wies er mich auf die vielerlei Arten hin, in denen Peter den Tod zu idealisieren schien. Nun ging ich erneut zu ihm, da ich mich fragte, ob ich etwas übersehen hatte. Mein Supervisor versuchte, mich zu beruhigen. »Wer weiß?«, sagte er. »Vielleicht hat ihn deine Analyse im letzten Jahr vom Selbstmord abgehalten .« Trotzdem machte mir Peters Tod ziemlich zu schaffen. Natürlich wusste ich, dass wir alle die Fähigkeit besitzen, selbstzerstörerisch zu handeln, nur hatte ich geglaubt, der Wunsch, leben zu wollen, sei stärker. Stattdessen spürte ich nun, wie fragil er war. Peters Selbstmord machte mir klar, dass der Kampf zwischen den Kräften des Lebens und des Todes viel ausgewogener verlief, als ich vermutet hatte.
    Sechs Monate später fand ich eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter vor. Ich hörte die unverkennbaren Geräusche einer öffentlichen Telefonzelle – Tuten, Münzklicken – und dann Peters Stimme: »Ich bin’s. Ich bin nicht tot. Wäre es Ihnen recht, wenn ich zu Ihnen komme und wir miteinander reden? Ich bin unter meiner alten Nummer zu erreichen.«
    In dem Augenblick, in dem ich Peters Stimme hörte, fühlte ich mich verwirrt und meinte fast, in Ohnmacht zu fallen. Einen Moment lang redete ich mir ein, der Anrufbeantworter funktioniere nicht, weshalb ich eine uralte Nachricht von Peter hörte, die nie gelöscht worden war. Dann aber musste ich lachen – vor Wut, vor Erleichterung. Und weil ich so verblüfft war.
    Als ich an jenem Abend der Psychiaterin schrieb, um ihr mitzuteilen, dass Peter doch nicht tot war, tat ich, was viele Menschen tun, wenn sie wütend sind. Ich riss einen Witz. »Falls es keine
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