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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Autoren: Stephen Grosz
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auf eine Weise benehmen, die wir nicht verstehen.
    Zwei Jahre, nachdem Peter seine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, einigten wir uns darauf, die Analyse zu beenden. Ich fand, dass es noch mehr zu tun gab, aber Peter meinte, es sei an der Zeit.
    All dies ist vor vielen Jahren geschehen. Seither hat Peter um keinen neuen Termin mehr gebeten, aber ich bin ihm kürzlich begegnet, vor dem Kino. Wir erkannten uns über den Eingangsbereich hinweg. Peter sagte etwas zu seiner Begleitung, und sie kamen beide herüber. Er gab mir die Hand und stellte mich dann seiner Frau vor.

Über das Lachen
    Montag, der erste Tag nach den Osterferien – es war warm und strahlend hell. Ich öffnete die Fenster in meinem Wartezimmer einen Spaltbreit und ging vor die Tür, um die letzte Patientin des Morgens hereinzubitten. Lily stand auf, sobald sie mich kommen hörte. »Wie schön, wieder hier zu sein«, sagte sie. »Ich hatte zu Hause eine verrückte Zeit.«
    Lily war gerade von einer Kurzreise nach New York zurückgekehrt, wo sie mit der neun Monate alten Tochter Alice ihre Eltern besucht hatte. Der Flug von London war schrecklich gewesen. Und nachdem sie es mit Alice und all dem Gepäck endlich durch den New Yorker Flughafen geschafft hatte, traf sie ihre Mutter draußen auf dem Bürgersteig. »Sie hat mich umarmt, wie sie mich immer umarmt«, sagte Lily. »Sie schließt die Augen und klopft mir auf den Rücken – als ob ich Flöhe hätte.«
    Ihre Mutter öffnete die Wagentür, und Monty, der schlabbernde, fünfzig Pfund schwere Golden Retriever sprang nach draußen. »Er schob mir die Nase in den Schritt meiner Jeans, was ich ziemlich peinlich fand. Und dann habe ich mich gefragt, wieso sie den Hund mit zum Flughafen nimmt – schließlich fährt sie keinen Kombi. Mom meinte: ›Ich dachte, so kann ich euch am besten miteinander bekannt machen.‹ Also saß Alice hinten im Kindersitz, ich neben ihr, und Monty hockte vorn auf dem Beifahrersitz.«
    Während ihres gesamten Besuches zeigten sich Lilys Eltern kaum an ihrem Leben interessiert. Die beiden Fernseher blieben den ganzen Tag voll aufgedreht, und sie aßen eng zusammengedrängt am Küchentresen. Der Vater stellte meist seinen Laptop neben den Teller.
    »Am letzten Abend sagte ich meinen Eltern nach drei Gläsern Wein, dass ich ihnen tausend Fotos von Alice schicken würde, sobald ich wieder in London sei. Sie müssen nämlich wissen, dass es in ihrem Haus Fotos in jedem Zimmer gibt. Allein auf dem Flügel steht eine ganze Sammlung, aber nirgendwo ist auch nur ein einziges Foto ihres ersten Enkelkindes zu sehen.
    Und meine Mom sagte: ›Ach du meine Güte, hast du es denn nicht gesehen? Das ist mein absolutes Lieblingsbild!‹ Und sie ging ins Schlafzimmer, durchwühlte die Schublade ihrer Kommode und fischte eine Aufnahme von Alice heraus. Sie lächelte und erklärte: ›Oh ja, ich liebe dieses Bild‹; daraufhin mein Dad: ›Oh ja, ich liebe dieses Bild.‹ Und ich sagte: ›Oh ja, ich liebe es auch.‹ Aber insgeheim dachte ich: Was soll der Scheiß? Glaubt sie, ich hätte den Röntgenblick?«
    Ich musste ein Lächeln unterdrücken.
    Lily schwieg einen Moment. »In dieser letzten Nacht hatte ich einen seltsamen Traum, einen Albtraum. Was geschah, war eigentlich sehr schlimm, nur fand ich es nicht schlimm.«
    Im Traum stand Lily in einer Gruppe an einem See. Sie sah einem kleinen Mädchen zu, das hinaus zu einem Holzfloß schwamm – das Mädchen gab sich Mühe, schaffte es und zog sich hoch. Ein Blitz zuckte über den Himmel; es donnerte. Das Mädchen war in Gefahr, nur schien das niemanden zu kümmern – wo war die Mutter des kleinen Mädchens, wo der Vater? Lily bat ihre Eltern, auf Alice aufzupassen, und schwamm zu dem kleinen Mädchen. Der See war schwarz und aufgewühlt; Lily hatte Mühe, den Kopf des Mädchens über Wasser zu halten. Als sie an Land kamen, trug sie die Kleine aus dem Wasser und merkte dann, dass ihre Eltern allein waren – Alice war nirgendwo zu sehen.
    Lily nahm an, dass sich der letzte Teil – Alice war nirgendwo zu sehen  – auf das in der Schublade vergrabene Foto bezog. Was aber war mit dem Rest des Traums?
    »Erinnert er Sie an irgendwas?«, fragte ich.
    Er erinnerte sie an den See unweit von ihrem alten Internat. Jeden Herbst wurden ein, zwei neue Schüler von den älteren Schülern in den See geworfen. Meist suchten sie sich die frechsten Jungs und die schönsten Mädchen aus. In diesen ersten Wochen im
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