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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Autoren: Stephen Grosz
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an der Universität Oxford abschließen. Gegen Ende des Vorgesprächs beugte Alice sich auf ihrem Stuhl vor. Sie sagte, neunzehn Jahre zuvor sei Jack, ihr drittes Kind, unerwartet gestorben. Er wurde drei Monate alt. »Es war an einem Freitag – am 27. Juni 1969 – gleich nach dem Abendessen. Ich hatte Jack gestillt und ihn zum Schlafen hingelegt. Als ich zurückkam, war er tot.«
    Ich hörte zu, wie Alice einen Abschnitt aus dem Buch Über die Trauer von C. S. Lewis zusammenfasste, in dem der Autor die Angst beschreibt, nach und nach die Erinnerung an seine tote Frau zu verlieren: »Wie Schneeflocken, die auf ihr Andenken fallen, bis ihr wahres Bild darunter verborgen liegt«, formulierte es Lewis. »Nur ist es so nicht für mich«, fuhr Alice fort. »Ich erinnere mich sehr genau an Jack, an den Geruch seiner Haut, sein Lächeln, an alles.«
    Einen Moment lang blieb sie absolut still und sagte dann: »Vor einigen Tagen war ich in der Küche und hörte Radio, als diese schreckliche Nachricht über die Kinder kam, die bei einem Schiffsunglück umgekommen sind. Und ich dachte »Jack wird wenigstens nicht ertrinken«. So etwas denke ich ständig: Jack ist sicher vor betrunkenen Fahrern. Jack wird niemals Krebs kriegen oder einen Herzinfarkt. Mein Baby ist sicher. Das ist verrückt. Ich sollte so etwas nicht denken.«
    Vor sechs Monaten bat Edmund K. mich um ein Gespräch. Mit neunundzwanzig Jahren war Edmund bereits Direktor einer internationalen Hilfsorganisation. In den vergangenen fünf Jahren hatte er über dreißig Länder bereist und die Hilfsmaßnahmen in Afghanistan, Sudan und im Irak geleitet. Seit seinem neunzehnten Lebensjahr, in dem sein Vater Selbstmord beging, nahm er Antidepressiva. »Ich sollte diese Tabletten nicht nehmen müssen«, sagte er. »Aber jedes Mal, wenn ich sie absetze, werde ich wieder, wie ich mit neunzehn war – wütend auf meinen Dad, weil der sich umgebracht hat. Das ist so blöd. Ich hätte damit schon vor Jahren abgeschlossen haben sollen.«
    Alice P. und Edmund K. trauern auf je eigene Weise. Beiden gemeinsam aber ist Folgendes: Sie leiden stärker, weil sie kein Ende finden können.
    Sie leiden stärker, weil von ihnen erwartet wird, Fortschritte zu machen und bestimmte Trauerstadien zu durchlaufen. Und wenn sie das nicht schaffen, glauben sie, dass sie etwas falsch machen, vielmehr, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Sie leiden doppelt – erst an der Trauer, dann an der Tyrannei des Sollens: »Ich sollte so etwas nicht denken.« »Ich sollte nicht mehr so wütend sein.« »Ich hätte damit längst abgeschlossen haben sollen« und so weiter. Da bleibt nur wenig Raum für emotionales Erkunden oder Verstehen. So zu leben führt zu Selbsthass, Verzweiflung und Depression.
    Die Vorstellung von einem Abschluss – ein Ende der Trauer zu finden – geht vermutlich auf die Arbeit von Elisabeth Kübler-Ross zurück. In den sechziger Jahren benannte sie fünf psychologische Stadien in der Erfahrung sterbenskranker Patienten, deren letzten sie »die Zustimmung« genannt hat. Vor etwa fünfundzwanzig Jahren begannen Kübler-Ross und viele Trauerberater mit Hilfe eben dieser fünf Stadien, die Erfahrung der Sterbenden, aber auch der Trauernden zu beschreiben.
    Ich bin schon seit langem der Ansicht, dass Kübler-Ross sich irrte. Die »psychologischen Stadien« des Sterbens und Trauerns sind ganz andere. Für den Menschen, der stirbt, gibt es ein Ende, nicht aber für jenen, der trauert. Der Trauernde lebt weiter, und solange er lebt, besteht immer auch die Möglichkeit, dass er wieder Trauer empfindet.
    Jeder von uns trauert auf eigene Weise, doch lassen der anfängliche Schock und die vom Tod ausgelöste Angst mit der Zeit meist nach. Durch Trauerarbeit fühlen wir uns allmählich besser, auch wenn ein Rest Kummer bleibt. Feiertage und Jahrestage sind da bekanntlich besonders heikel. Trauer kann nachlassen, um dann ohne Vorwarnung wiederzukehren. Der Verlust eines Kindes, der Verlust durch einen Selbstmord – diese, aber auch andere Verluste können anhaltenden Kummer verursachen; und sie tun dies auch.
    Dennoch neigt die Branche der Trauerberater dazu, ein Ende der Trauer zu versprechen. »Trauerliteratur« – ein florierendes Sub-Genre der »Genesungsliteratur« – offerierte in letzter Zeit folgende Titel: Wenn die Trauer kommt: Hilfreiche Familienmitglieder lösen Probleme um Tod, Sterben und Verlust; Die Stufen der Trauer: die Stufen des Umlernens, Umorientierens und der
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