Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
Vom Netzwerk:
Vater hatte die Morgen- und Abendzeitung von Riley abonniert,
The Riley Citizen
und
The Riley Courier
, sowie den
Esquire
, den meine Großmutter gründlicher zu lesen schien als er selbst. Meine Mutter las überhaupt nicht, und bis heute bin ich mir nicht sicher, ob es ihr an Zeit oder an Interesse mangelte.
    Als Tochter eines Bankdirektors ging ich immer davon aus, dass wir wohlhabend waren. Ich war über dreißig, als ich feststellen musste, wie wenig ein wirklich wohlhabender Amerikaner meine Ansicht geteilt hätte. Riley lag exakt in der Mitte von Benton County, einem Verwaltungsbezirk mit zwei konkurrierenden Käsefabriken: Fassbinder’s draußen im De Soto Way und White River Dairy, die zwar näher an Houghton lag, deren Arbeiter aber größtenteils in Riley wohnten, da die Stadt mit ihren fast vierzigtausend Einwohnern mehr Annehmlichkeiten und Attraktionen zu bieten hatte – unter anderem ein Kino. Viele Eltern meiner Mitschüler arbeiteten in einer der beiden Fabriken, andere Kinder lebten auf kleinen Farmen, einige wenige auf großen. Freddy Zurbrugg zum Beispiel, dem in der dritten Klasse vor lauter Lachen die Tränen kamen, als unser Lehrer das Wort
Pianist
benutzte, stammte von der viertgrößten Milchfarm des Staates. Und dennoch erschien es mir unendlich kultivierter, aus der Stadt zu kommen. Riley war schachbrettartig angelegt und grenzte im Westen an den Riley River. Im Süden der Stadt lag das Gewerbegebiet, und nördlich zogen sich Straßen mit Wohnhäusern den Berg hinauf. Als Kind kannte ich die Namen aller Familien aus der Amity Lane: die Weckwerths, deren Sohn David das erste Baby war, das ich im Arm halten durfte; die Noffkes, deren Kater Zeus mir die Wange blutig kratzte, als ich fünf war, und eine lebenslange Aversion gegen Katzen aller Art bei mir hinterließ; die Cernochs, die während der Jagdsaison ihren erlegten Hirsch an einem Baum im Vorgarten aufzuhängen pflegten. Die Calvary Lutheran Church, in die wir gingen, befand sich in der Adelphia Street, Grundschule und Junior Highschool lagen auf einem Gelände sechs Blocks von unserem Haus entfernt. Die 1948 fertiggestellte neue Highschool, die auch 1959, als ich dort hinkam, noch als »neu« bezeichnet wurde, war ein gewaltiger Backsteinbau mit sechs wuchtigen korinthischen Frontsäulen, der als größtes Gebäude der Stadt auf Postkarten in Utzenstorf ’s Drugstore verkauft wurde. Das Riley meiner Vorstellung erstreckte sich über weniger als zweieinhalb Hektar, dahinter lag in alle Richtungen weites Land: Felder, Wiesenund Weiden, Hügellandschaften, Buchen- und Zuckerahornwälder.
    Mit Kindern zur Schule zu gehen, die noch Plumpsklos benutzten oder nur Lebensmittel aßen, die von der eigenen Farm stammten, machte mich nicht hochnäsig, im Gegenteil: Ich führte mir vor Augen, welche Vorteile ich genoss, und versuchte deshalb, besonders freundlich zu ihnen zu sein. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass mir diese Haltung viele Jahre später, in einem Leben, das ich mir nie hätte vorstellen können, gute Dienste leisten würde.
     
    Einige Jahre lang dachte ich kaum an die Begegnung im Lebensmittelladen. Die zwei Personen, denen der Vorfall meiner Ansicht nach hätte peinlich sein sollen – meiner Großmutter, die sich in Andrews Geschlecht geirrt hatte, und Andrew, dem Leidtragenden (hätte irgendjemand aus unserer Klasse von der Sache Wind bekommen, er wäre erbarmungslos damit aufgezogen worden) –, schienen von dem Vorfall ungerührt. Andrew und ich gingen weiter zusammen zur Schule, doch wir sprachen nur selten miteinander. In der vierten Klasse wurde er einmal kurz vor der Mittagspause von unserer Lehrerin nach vorne geholt, um die Namen der Mitschüler aufzurufen, die sich daraufhin in einer Reihe aufstellen sollten – ein täglich mehrfach zelebriertes Ritual. »Wenn dein Name mit B anfängt«, sagte Andrew zunächst und meinte damit seinen Freund Bobby, der sich nun direkt hinter ihn stellen konnte. »Wenn du eine rote Schleife im Haar trägst«, fuhr er fort. Ich war an diesem Tag die Einzige mit einer solchen Schleife. Während Andrew sprach, schaute ich gerade nach vorn, was bedeutete, dass er die Schleife an meinem Pferdeschwanz bereits vorher gesehen haben musste. Er hatte nichts gesagt und auch nicht daran gezogen wie einige der anderen Jungs, aber er hatte sie bemerkt.
    Zwei Jahre später, in der sechsten Klasse, waren meine Freundin Dena und ich an einem Samstagnachmittag auf dem Rückweg von der Stadt nach
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher