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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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dem Heizen des Hauses während der strengen Winter in Wisconsin hatten sie nur wenig zu tun.
    Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Großmutter die Ansicht meiner Eltern teilte, statt sich diesem wenig schmeichelhaften Bild zu widersetzen. Zu einer anderen Zeit hätte ich sie mir glänzend als Buchkritikerin vorstellen können oder sogar als Englischlehrerin, aber sie hatte nie eine höhere Schule besucht, ebenso wenig wie meine Eltern. Der Mann meiner Großmutter, der Vater meines Vaters, war früh gestorben, und so hatte meine Großmutter als junge Witwe in einem Damenbekleidungsgeschäftangefangen, wo sie die würdigen älteren Damen Milwaukees empfing, die laut ihrer Aussage zwar über Geld, aber über keinerlei Geschmack verfügten. Sie behielt diese Arbeit, bis sie fünfzig war – fünfzig war damals ein ganz anderes Alter als heute –, dann zog sie mit meinen frisch verheirateten Eltern nach Riley.
    Den Großteil der Bücher, die sie las, lieh sie sich aus der Bücherei, manchmal aber kaufte sie auch welche und bewahrte sie in einem überfüllten Regal in ihrem Schlafzimmer auf. Dort standen sie in Doppelreihen und erinnerten mich an ein Mädchen aus meiner Klasse, Pauline Geisseler, deren zweite Zähne bereits durchgekommen waren, bevor ihr die Milchzähne ausfielen, und die manchmal in der Pause ohne jede Verlegenheit ihren Mund für uns aufriss. So gut wie nie las meine Großmutter mir etwas vor, doch sie nahm mich regelmäßig mit in die Bücherei. Wieder und wieder las ich die Bücher von Laura Ingalls Wilder sowie die Serien mit Nancy Drew oder den Hardy Boys, und oft gab sie mir dramatische Zusammenfassungen der Erwachsenenbücher:
Eine wohlerzogene verheiratete Frau verliebt sich in einen Mann, der nicht ihr Ehemann ist. Nachdem Letzterer von dem Treuebruch erfährt, sieht sie keinen anderen Ausweg, als sich vor einen fahrenden Zug zu werfen …
    Die Atmosphäre ihres Schlafzimmers war von derartigen Handlungen regelrecht gesättigt, Intrigen hingen in dem Raum, in dem sich nur wenige sorgsam ausgewählte Habseligkeiten befanden. Am besten gefiel mir die Büste der Nofretete auf der Kommode. Sie war ein Geschenk ihrer Freundin Gladys Wycomb aus Chicago und eine Nachbildung der ägyptischen Skulptur des Bildhauers Thutmosis. Nofretete hatte ihren ruhigen Blick nach vorn gerichtet, trug einen schwarzen Kopfschmuck und eine mit Edelsteinen besetzte Halskette. Ihr Name, erklärte mir meine Großmutter, bedeutete »Die Schöne ist gekommen«.
    Neben der Büste waren Bilderrahmen aufgestellt: eine Aufnahme meiner Großmutter von 1900, wie sie als junges Mädchen in einem weißen Kleid neben ihren Eltern stand; einHochzeitsfoto meiner Eltern, auf dem mein Vater seine Uniform, meine Mutter ein zweireihiges Etuikleid trug (obwohl es ein Schwarzweißfoto war, wusste ich von meiner Großmutter, dass das Kleid lavendelblau war); eine Fotografie meines verstorbenen Großvaters, der Harvey geheißen hatte und hier in die Sonne blinzelte; und zuletzt ein Bild von mir, mein Klassenfoto aus der zweiten Klasse, auf dem ich mit Mittelscheitel, Zöpfen und einem verkrampften Lächeln zu sehen war.
    Außer ihren Büchern, den Fotos, der Nofretete-Büste, einem Parfumfläschchen und ihren Schminksachen war das Schlafzimmer meiner Großmutter recht schlicht. Wie ich schlief sie in einem Einzelbett, auf dem eine gelbe Tagesdecke und im Winter zusätzlich jede Menge karierter Wolldecken lagen. Die Wände waren nahezu kahl, und auf ihrem Nachttisch gab es gewöhnlich nur eine Lampe, ein Buch und einen Aschenbecher. Trotzdem erschien mir dieser Ort, an dem es nach Zigarettenrauch und Shalimar-Parfum roch, als das Tor zu einer Erlebniswelt, als ein Tummelplatz für Erwachsene. Im Reich meiner Großmutter konnte ich die Erfahrungen und Leidenschaften der Romanfiguren geradezu spüren.
    Ich weiß nicht, ob sie bewusst versuchte, einen Bücherwurm aus mir zu machen, aber ich durfte mir jedes ihrer Bücher nehmen, selbst jene, bei denen ich wenig Hoffnung hatte, sie zu verstehen (mit neun Jahren begann ich
Bildnis einer Dame
und gab nach zwei Seiten wieder auf), oder Bücher, deren Lektüre mir meine Mutter, hätte sie davon gewusst, verboten hätte (ich war elf, als ich
Die Leute von Peyton Place
nicht nur zu Ende las, sondern sofort noch einmal von vorn begann). Meine Eltern dagegen besaßen bis auf einige Bände der
Encyclopedia Britannica
, deren kastanienbraune Buchrücken das Wohnzimmer schmückten, fast keine Bücher. Mein
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