Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau aus dem Meer

Die Frau aus dem Meer

Titel: Die Frau aus dem Meer
Autoren: Andrea Camilleri
Vom Netzwerk:
linken Zimmers sich zu Eurem Schlafzimmer öffnen. Stimmt das?»
    «So ist es.»
    «Aber wie werdet Ihr es halten, wenn Eure Kinder größer werden und ihre Unabhängigkeit brauchen? Sind sie dann immer gezwungen, durch Euer Zimmer zu gehen?»
    Gnazio lachte.
    «Aber sicher habe ich daran gedacht. Da, wo sich jetzt die Fenster der neuen Zimmer befinden, setze ich zwei Türen ein, eine für jedes Zimmer, und jedes mit seiner eigenen Treppe.»
    «Und die Fenster versetzt Ihr dann nach dieser Seite?»
    «Niemals, gütiger Himmel! Wenn ich die nach dieser Seite versetze, sehen sie ja das Meer! Nein, die Fenster lasse ich seitlich ein.»
    «Wäre es aber nicht besser, sie würden zum Meer hin liegen?»
    «Nein», sagte Gnazio resolut.
    Da nahm der Amerikaner eine Zeichnung, die er bereits von der dem Olivenbaum gegenüberliegenden Fassade angefertigt hatte, und zeichnete mit einem Rotstift die Türen und Treppen ein.
    «Denkt Ihr an eine solche Lösung?»
    «Ganz genau.»
    «Meinen Glückwunsch!»
    «Wozu?»
    «Pater!»
, rief Resina. «Kommt! Es ist Essenszeit.»
    Als sie bei Tisch saßen, erzählte der Amerikaner Gnazio, er würde nicht mehr in Amerika leben, sondern in einer deutschen Stadt, die Hamburg hieß, und dass er sich mit Zeichnungen und Karikaturen durchs Leben schlage.
    Am Ende bat er Gnazio um Erlaubnis, eine Karikatur von ihm anfertigen zu dürfen.
    Dazu brauchte er fünf Minuten, und als alle sie dann sahen, fingen sie an zu lachen, auch Gnazio, denn er erschien sehr komisch auf dem Blatt.
    «Ich schenke sie Euch», sagte der Amerikaner.
    Und dann fragte er:
    «Darf ich ein Porträt von Eurer Frau machen?»
    «Er möchte ein Porträt von dir zeichnen», erklärte Gnazio Maruzza.
    Doch seine Frau gab ihm durch ein Kopfschütteln zu verstehen, dass sie das nicht wollte.
    «Tut mir leid, aber …», sagte Gnazio.
    «Ich verstehe …», sagte der Amerikaner, ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde von Maruzza abzuwenden.
    Und weil sie sich auf diese eindringliche Weise beobachtet fühlte, verabschiedete sie sich von dem Amerikaner und stieg zum Schlafzimmer hinauf.
    «Wir gehen jetzt arbeiten», sagte Gnazio.
    «Ich baue nur den Fotoapparat ab und gehe dann», sagte der Amerikaner. «Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft.»
    Sie verabschiedeten sich. Gnazio und Cola gingen hinaus. Der Amerikaner begann das Stativ abzubauen, und in diesem Augenblick fing Maruzza auf dem Balkon an zu singen.
    Sie sang bis zur Abenddämmerung, als sie sah, dass Gnazio und ihr Sohn wieder zurückkamen. Gnazio ging ins Haus, während Maruzza die Treppe herunterkam.
    Der Amerikaner war gegangen.
    Doch er hatte eine Zeichnung auf dem Tisch zurückgelassen. Sie zeigte eine Sirene mit dem Gesicht und den nackten Brüsten Maruzzas. Neben ihr befand sich eine kleine Sirene mit dem Gesicht von Resina.
    Wortlos nahm Maruzza die Zeichnung und warf sie ins Feuer.
    Am ersten Januar des Jahres neunzehnhundertneun, als sie alle bei Tisch saßen, sagte Cola plötzlich:
    «Ich will lernen, ich will in die Schule gehen.»
    Maruzza und Gnazio sahen ihn verblüfft an.
    «Aber jetzt bist du doch schon neun – man wird dich nicht mehr ins erste Schuljahr aufnehmen!», sagte Gnazio.
    «Ich gehe ja auch nicht ins erste Schuljahr.»
    «Wie willst du es dann anstellen?»
    «Ein Gymnasiallehrer aus Vigàta gibt mir Privatunterricht, er heißt Sciortino. Danach schickt er mich zur Prüfung.»
    «Wie hast du ihn kennengelernt?»
    «Ich bringe ihm Eier nach Hause. Vor einer Woche hat er mich bei sich eintreten lassen, und da habe ich gesehen, dass er eine große Himmelskarte hat. Da haben wir angefangen, über Sterne zu reden. Danach hat er mich gefragt, welche Schulen ich besucht hätte, und ich habe ihm gesagt, keine, da hat er mir diesen Vorschlag gemacht.»
    «Und wie viel will er für die Stunde?»
    «Nichts, er will nicht bezahlt werden.»
    «Aber wer hilft mir dann auf den Feldern?», versuchte Gnazio dagegenzuhalten, der bereits wusste, wie diese Sache ausgehen würde.
    «Ich helfe Euch,
patre
!», sagte Calorio, der vier Jahre alt war.
    «Nein, du bist noch viel zu klein.»
    «Ich helfe dir», sagte Maruzza.
    «Aber du musst dich um das Haus kümmern, um die Kinder …»
    «Mach dir keine Sorgen! Doch wenn Cola lernen will, muss er das tun.»
    Zwei Jahre später ging Gnazio eines Morgens um fünf ins Zimmer der beiden Jungen. Cola schlief, er war lange aufgeblieben und hatte die Sterne beobachtet. Gnazio trat ans Bett von Calorio, rief ihn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher