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Die Frau aus dem Meer

Die Frau aus dem Meer

Titel: Die Frau aus dem Meer
Autoren: Andrea Camilleri
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diese Geschichte von Zio Japico gehört hatte, schwor er sich, sobald er nur könne, einen anderen Beruf zu ergreifen.
    Er war neunzehn, als seine Mutter starb, weil niemand ihr nach dem Biss einer Viper zu helfen vermochte. In dem Tüchlein, in dem sie ihre Ersparnisse aufbewahrt hatte, fand er so viel Geld, wie er es gar nicht erwartet hatte, und so beschloss er, auch nach Amerika auszuwandern.
    Doch wie gelangte man nach Amerika, das auf der anderen Seite der Welt lag? Er bat einen seiner Cousins, Tano Fradella, ihm dies zu erklären, denn Tano hatte bereits seine Papiere beisammen und stand kurz vor der Abreise.
    «Was braucht man dazu?»
    «Zuallererst den Reisepass.»
    «Was ist denn das?»
    Tano erklärte es ihm. Und er sagte ihm auch, dass man, um einen zu bekommen, ein Gesuch an den Amtsvorsteher von Vigàta richten müsse. Und so präsentierte Gnazio sich vor dem Amtsvorsteher.
    «Was willst du?»
    «Ich will mir Dokumente ausstellen lassen, um nach Amerika zu fahren.»
    «Wie heißt du?»
    Gnazio sagte es ihm.
    «Wann bist du geboren?»
    Gnazio sagte es ihm.
    «Wie heißen deine Eltern?»
    Gnazio sagte es ihm.
    Und er sagte ihm auch, dass seine Mutter gestorben sei und er nicht wisse, ob sein Vater in Amerika noch lebe oder auch schon gestorben sei.
    «Und du willst ihn in Amerika finden?»
    «Ich weiß ja nicht mal, wie er aussieht!»
    Der Amtsvorsteher blätterte ein wenig in den Papieren auf seinem Tisch. Dann rief er:
    «Blandino!»
    «Zu Befehl!»
    Der Mann, der nun den Raum betrat, trug die Uniform eines Wachtmeisters.
    «Leg dem da Handschellen an!»
    «Wieso denn das?», fragte Gnazio völlig verdattert.
    «Wehrdienstverweigerung!»
    «Was ist denn das: Wehrdienst?»
    «Du musst zum Militär gehen.»
    «Davon hat mir keiner was gesagt.»
    «Die Bekanntmachung für die Einberufung hing überall aus.»
    «Ich kann aber weder lesen noch schreiben.»
    «Dann hättest du es dir von jemand anderem vorlesen lassen müssen.»
    Er saß fünf Tage im Kerker. Am Morgen des sechsten Tages brachte man ihn nach Montelusa, an einen Ort, der «Militärdistrikt» genannt wurde. Dort ließ man ihn sich nackt ausziehen, das erfüllte ihn mit Scham, und er hielt die Hände vor seine Schamteile, und einer im weißen Kittel sagte, nachdem er ihn vorne und hinten untersucht hatte:
    «Wehrfähig.»
    Da trat einer vor, der war wie ein Marinesoldat gekleidet und hatte ein Schurkengesicht. Der sagte zu ihm:
    «Aaach…tung!»
    Was sollte das denn bedeuten? Gnazio blickte sich um, er sah nirgendwo Gefahr und fragte ihn:
    «’tschuldigung, aber wovor soll ich mich vorsehen?»
    Der andere fing an zu brüllen, dass man meinte, er wäre wahnsinnig geworden.
    «Einen auf Klugscheißer machen, was? Aber das werde ich dir schon noch austreiben, diesen Kartoffelwitz! Stell dich zu denen da drüben!»
    Und er deutete auf eine Gruppe von zehn jungen Männern in Gnazios Alter. Zu denen gesellte er sich.
    «Morgen schon werden wir eingeschifft», sagte einer.
    «Wieso werden wir eingeschifft?», fragte Gnazio.
    «Weil wir Matrosen werden sollen.»
    Einschiffen? Aufs Meer hinausfahren? Inmitten von Stürmen? Inmitten von Wellen, die höher waren als ein dreistöckiges Wohnhaus? Auf dem Meer, wo es Kraken gab, die größer waren als eine Karosse, die einen packten und nach unten zogen und ertrinken ließen? Niemals, Signuri! Ausgerechnet er sollte Matrose werden, er, der er das Meer nicht mal auf einem Bild ansehen konnte?! Verzweifelt fing er an zu schreien:
    «Matrose, nein! Und auch nicht aufs Meer! Um des lieben Heilands willen – auf keinen Fall Matrose!»
    Und er schrie so laut und lärmte so sehr, dass man ihn zum Landser machte.
    Als Soldat ging es ihm gut. Er wurde nach Cuneo geschickt, und nach vier Tagen fragte ein Feldwebel, ob es jemanden gebe, der Bäume beschneiden könne. Gnazio verstand nur das Wort «Bäume» und fragte:
    «Was bedeutet das: beschneiden?»
    Der Feldwebel erklärte es ihm. «Säubern», «ausputzen», das bedeutete «beschneiden».
    «Ich weiß, wie man das macht», sagte Gnazio.
    Tags darauf arbeitete er auf einem Stück Land von Colonnello Vidusso, einem vornehmen Herrn, dem es gelang, seine Militärdienstzeit auf zwei Jahre zu verkürzen, und der sich persönlich darum kümmerte, ihm die Dokumente für die Abreise nach Amerika ausstellen zu lassen. Kurz: Er schiffte sich ein, da war er gerade zwanzig geworden.
    Während der gesamten Reise hielt er sich im Bauch des Dampfschiffs auf, in all den
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